Die Paläontologische Sammlung der Universität Greifswald spielt eine bedeutende Rolle in einer internationalen Studie zur Erforschung des europäischen Walfangs. Unter der Leitung von Youri van den Hurk, Zooarchäologe an der Universität Trondheim, wurde eine wegweisende Forschungsarbeit veröffentlicht. Die Studie mit dem Titel „The prelude to industrial whaling: identifying the targets of ancient European whaling using zooarchaeology and collagen mass-peptide fingerprinting“ wurde am 13. September 2023 im Journal „Royal Society Open Science“ veröffentlicht.
Hintergrund ist, dass die taxonomische Identifizierung von Walknochen, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden, schwierig ist, da sie typischerweise stark fragmentiert überliefert sind. Diese Schwierigkeit schränkt das Verständnis sowohl für die frühere räumlich-zeitliche Verteilungen von Walpopulationen als auch über mögliche frühe Walfangaktivitäten stark ein. Um diese Herausforderung zu meistern, wurden 719 archäologische und paläontologische Funde von potenziellen Bartenwalen (Balaenidae) aus dem nördlichen Europa, dem Atlantik und den angrenzenden Gebieten, überwiegend aus dem Zeitraum von 3000 v. Chr. bis zum 18. Jahrhundert, untersucht.
Bei der Identifizierung der Walüberreste wurde die Zooarchäologie durch Massenspektrometrie (ZooMS) angewendet. Dies ist eine relativ junge wissenschaftliche Methode, die auf charakteristischen Peptidsequenzen im Kollagenprotein basiert, auch als Peptid-Massen-Fingerprinting (PMF) bekannt. ZooMS wird verwendet, um Tierarten anhand von Knochen, Zähnen, Haut und Geweih zu identifizieren, die aufgrund ihrer stark fragmentierten Natur morphologisch nicht bestimmt werden können. Diese Technik wurde erstmals 2009 von Forschern der Universität York entwickelt, ursprünglich mit dem Ziel, zwischen Schaf- und Ziegenknochen zu unterscheiden, die morphologisch ähnlich sind.
Im Ergebnis konnten 334 Knochen vom Nordatlantischen Glattwal (Eubalaena glacialis) und etwa 110 Knochen vom Grauwal (Eschrichtius robustus) nachgewiesen werden, zwei Taxa bzw. Arten, die im östlichen Nordatlantik nicht mehr vorkommen. Vom Nordatlantischen Glattwal gibt es aktuell weltweit nur noch etwa 300 Individuen. Grauwale sind seit Jahrhunderten aus dem Nordatlantik verschwunden und sind heute nur noch im Nordpazifik verbreitet.
Während es fast unmöglich ist, zu sagen, ob ein Knochenfragment von einem gejagten Wal stammte oder von einem, der an den Strand gespült wurde, deutet eine unverhältnismäßig große Anzahl von Glattwal- und Grauwalknochen an archäologischen Stätten darauf hin, dass die alten Europäer diese Arten jagten. „Es war eine ziemliche Überraschung, auf so viele von ihnen zu stoßen“, sagte Dr. van den Hurk. Viele dieser Exemplare stammen aus Kontexten, die mit mittelalterlichen Kulturen, die häufig mit dem Walfang verbunden waren: Basken, Nordspanier, Normannen, Flamen, Friesen, Angelsachsen und Skandinavier. Diese Verbindung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der frühe Walfang Auswirkungen bereits auf diese Arten hatte und zu ihrer Ausrottung und ihrem Aussterben in Europa beitrug. Dies ist eine äußerst warnende Geschichte, die zeigt, dass die Menschen schon früher den Ozean als grenzenloses Vorratsquelle wahrnahmen, bis dies nicht mehr der Fall war; bis die Wale ihren Kurs änderten oder die Wale nicht mehr gefunden wurden.
In der Ostsee sind fossile bzw. subfossile Wale ausgesprochen selten, was natürlich auch mit dem weniger geeigneten Lebensraum zusammenhängt. Der aus der Greifswalder Sammlung untersuchte etwa 45 cm große Wirbel stammt von einem Buckelwal (Megaptera novaeangliae) und ist nach aktueller Altersdatierung mit Hilfe von Kohlenstoffisotopen (C14-Methode) etwa 4500 Jahre alt. Er wurde bei Baggerarbeiten 1906 in der Fahrrinne vor Lebamünde, heute Łeba (Polen), gefunden. Der Fund wurde mit einem eindrucksvollen Übergabeprotokoll vom Königlichen Hafenbauinspektor Wellmann der Universität Greifswald übergeben und bereits 1907 vom Greifswalder Professor Wilhelm Deecke in der „Geologie von Pommern“ erwähnt. In der aktuellen Studie konnte die ursprüngliche Zuordnung zum Buckelwal auch bestätigt werden. Allerdings ist davon auszugehen, dass dieser Buckelwal nicht dem Walfang zum Opfer fiel, sondern dass es sich um eine natürliche Strandung handelte. Dieses Beispiel zeigt aber insgesamt wieder eindrucksvoll, welche Bedeutung historisches Sammlungsmaterial für die aktuelle Forschung besitzen kann, dass somit auch eine besondere Aufbewahrung und Pflege verdient.
Weitere Informationen
The prelude to industrial whaling: identifying the targets of ancient European whaling using zooarchaeology and collagen mass-peptide fingerprinting https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsos.230741
Über die Walstudie berichtete auch die New York Times https://www.nytimes.com/2023/09/15/science/european-whales-extinction.html
Die Fotos können für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit dieser Medieninformation kostenlos unter pressestelle@uni-greifswald.de angefordert werden. Bei Veröffentlichung ist der Name der Bildautorin bzw. des Bildautors zu nennen.
Ansprechpartner an der Universität Greifswald
Dr. Stefan Meng, Kurator
Lehrstuhl für Paläontologie und Historische Geologie
Institut für Geographie und Geologie
Telefon +49 3834 420 4551
stefan.meng@uni-greifswald.de
http://www.geo.uni-greifswald.de
Wirbel eines Buckelwals
Foto: Stefan Meng
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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