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14.11.2023 14:00

Neue Daten sprechen für eine immunmodifizierende Therapie im präklinischen Stadium der Multiplen Sklerose (RIS)

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Das „radiologisch isolierte Syndrom“ (RIS) ist ein präklinisches Stadium der Multiplen Sklerose (MS). Bei RIS werden im zerebralen MRT zufällig Läsionen, die für eine MS typisch sind, gefunden, ohne dass jedoch MS-Symptome vorhanden sind. Bei einem RIS liegt somit per definitionem keine MS vor, sie kann sich aber daraus entwickeln, allerdings nicht zwingend. Die DGN Leitlinien raten daher bislang nicht zu einer immunmodulatorischen Therapie. Eine randomisierte klinische Studie [1] zeigte nun, dass die Behandlung mit dem MS-Medikament Teriflunomid bei RIS das MS-Risiko im Verlauf um 72 % reduziert. Zuvor war ein solcher Nutzen bereits für ein anderes MS-Medikament gezeigt worden.

    Bei Multipler Sklerose (MS) kommt es durch autoimmunvermittelte entzündliche Prozesse zur Schädigung von Nervenfasern bzw. deren Demyelinisierung. MS ist nicht heilbar. Die Behandlung basiert zum einen auf der Therapie akuter Schübe mit Glukokortikoiden und zum anderen einer kontinuierlichen „Disease Modifying Therapy“ (DMT) mit Immuntherapeutika. Die krankheitsmodifizierende Immuntherapie soll sich gemäß der aktuellen DGN-Leitlinie [2] nach der Aktivität der Erkrankung richten bzw. im Verlauf angepasst werden. Ziel ist es, die klinische Krankheitsaktivität (Schubrate, Verschlechterung) zu vermindern und die Lebensqualität möglichst lange zu erhalten.

    Eine eigene Kategorie ist das sogenannte radiologisch isolierte Syndrom (RIS). Das RIS ist durch zufällig entdeckte pathologische Befunde im zerebralen MRT definiert [2], d. h. Zufallsbefunde, die bei einer MRT-Untersuchung (wegen anderer Beschwerden, z.B. Kopfschmerzen) entdeckt wurden und so aussehen wie MS-Herde. Per definitionem handelt es sich beim RIS nicht um eine MS, da keine klinischen Symptome oder neurologische Ausfälle vorliegen und damit die notwendigen MS-Diagnosekriterien nicht erfüllt werden. Heute wird davon ausgegangen, dass es sich bei dem Verlauf der MS um ein Kontinuum handelt und das RIS somit ein präklinisches Stadium darstellt. Bei RIS sollte den Leitlinien entsprechend bisher unter regelmäßiger MRT-Kontrolle abgewartet und keine MS-Therapie begonnen werden. Bisher ist auch kein Immuntherapeutikum für diese Indikation zugelassen.

    Nicht jedes RIS entwickelt sich zu einer MS. Insgesamt könnte aber etwa die Hälfte der Betroffenen im Verlauf von zehn Jahren ein erstes klinisches MS-Ereignis/-Symptom entwickeln, wie eine Studie [3] an einer großen RIS-Kohorte (n=451) zeigte. Bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren (wie z.B. Alter <37 Jahre und oligoklonale Banden im Liquor) stieg das Risiko für eine MS-Konversion auf 87 %. Somit stellt sich die Frage, ob eine therapeutische Intervention die Konversion verhindern kann. Die ARISE-Studie („Multicenter Randomized Double Blinded Assessment of Tecfidera in Extending the First Attack in Radiologically Insulated Syndrome“) [4] hatte erstmals bei RIS-Betroffenen eine Risikoreduktion (um > 90 %) für zukünftige klinische demyelinisierende Ereignisse durch die DMT mit oralem Dimethylfumarat gezeigt: Es verlängerte die Zeit bis zum ersten klinischen MS-Ereignis.

    Eine neue multizentrische Phase-3-Studie untersuchte nun prospektiv den in mehr als 80 Ländern zur MS-Therapie zugelassen oralen Immunmodulator Teriflunomid zur Behandlung bei RIS [1]. 89 geeignete RIS-Patientinnen und -Patienten aus Frankreich, der Schweiz und der Türkei über 18 Jahre mit einem mittleren Alter von 37,8 ± 12,1 Jahre (70,8% weiblich) wurden doppelblind randomisiert und erhielten täglich entweder 14 mg Teriflunomid (n=44) oder Placebo (n=45). Sie wurden bis zu drei Jahre nachbeobachtet. Klinische, MRT- und selbstberichtete Befunde/Symptome wurden zu Studienbeginn und danach jährlich (bis Woche 96) erhoben. Teilnehmende, die weiterhin asymptomatisch waren, erhielten die Option, die Studienmedikation ein drittes Jahr zu erhalten (bis Woche 144 in der initial zugewiesenen Gruppe).

    Im Ergebnis war die Zeit bis zum ersten klinischen MS-Ereignis in der Teriflunomid-Gruppe im Vergleich zu Placebo signifikant länger, was einer Risikoreduzierung um 72 % entsprach (adjustierte HR 0,28; p=0,007). Mit Teriflunomid betrug die mittlere Zeit bis zur ersten MS-Symptomatik 128,2 ± 7,25 Wochen (insgesamt acht klinische Ereignisse); in der Placebogruppe 109,6 ± 7,44 Wochen (20 klinische Ereignisse). Sekundäre Endpunktereignisse (u. a. kumulative Zahl neuer oder sich vergrößernder Läsionen im MRT) unterschieden sich zwischen den Gruppen nicht. Das Sicherheitsprofil von Teriflunomid entsprach dem früherer Zulassungsstudien. Das Autorenteam konstatierte, dass eine Behandlung der RIS gegenüber einer Therapie, die erst mit dem Beginn der symptomatischen MS einsetzt, vorteilhaft sei.

    „Das ist nun schon die zweite Substanz, für die in einer prospektiven randomisierten Interventionsstudie der signifikante Nutzen einer DMT bei Personen mit RIS gezeigt werden konnte“, kommentiert Prof. Dr. Peter Berlit, Generalssekretär und Pressesprecher der DGN. „Die DGN-Leitlinie erlaubt, RIS-Betroffene mit besonders hohem Risiko für eine MS-Konversion, z. B. bei MS-typischen Liquorbefunden und Befundzunahme in MRT-Verlaufsuntersuchungen, mit einer DMT zu behandeln. Dies sollte aufgrund der Studienlage nun konsequent Betroffenen angeboten werden.“

    [1] Lebrun-Frénay C, Siva A et al.; TERIS Study Group. Teriflunomide and Time to Clinical Multiple Sclerosis in Patients With Radiologically Isolated Syndrome: The TERIS Randomized Clinical Trial. JAMA Neurol. 2023 Oct 1;80(10):1080-1088. doi: 10.1001/jamaneurol.2023.2815. PMID: 37603328; PMCID: PMC10442780.
    [2] Hemmer B. et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2023, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 01.11.2023)
    [3] Lebrun-Frenay C, Kantarci O, Siva A et al.; 10-year RISC study group on behalf of SFSEP, OFSEP. Radiologically Isolated Syndrome: 10-Year Risk Estimate of a Clinical Event. Ann Neurol. 2020 Aug;88(2):407-417. doi: 10.1002/ana.25799. Epub 2020 Jun 29. PMID: 32500558.
    [4] Okuda DT, Kantarci OH, Lebrun-Frénay C et al. Dimethyl fumarate delays multiple sclerosis in radiologically isolated syndrome. Ann Neurol. 2023; 93(3):604-614. doi:10.1002/ana.26555


    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 12.300 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Lars Timmermann
    Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Daniela Berg
    Past-Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Generalsekretär: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Originalpublikation:

    doi: 10.1001/jamaneurol.2023.2815


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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