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30.11.2023 10:46

Antisemitismus – nur ein rechtes Problem?

RWI Kommunikation
RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

    Die Unstatistik des Monats November ist eine Meldung verschiedener Medien, die eine deutliche Zunahme judenfeindlicher Gewalt in Deutschland und deren vorwiegend rechte Motivation thematisiert. Auf ihrem X-Account schreibt ZEIT Online unter Bezugnahme auf die eigene Internetseite: „Laut einem Bericht gibt es mehr judenfeindliche Gewalt in Deutschland. Sie kommt vor allem aus dem rechten Spektrum.“ Dabei beruft sich die ZEIT auf einen Bericht aus der Rheinischen Post, der wiederum die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion an den Bundestag zitiert. ...

    ... Bei ntv heißt es: „Antisemitische Straftaten nehmen sprunghaft zu.“ 80 Prozent davon seien dem rechten Spektrum zuzuordnen. ZDF und Süddeutsche Zeitung legten fast wortgleich nach.

    Die Fakten: Im dritten Quartal 2023 erfassten die Behörden in Deutschland 540 Fälle antisemitischer Straftaten. Um Gewalttaten handelt es sich in 14 Fällen. Im dritten Quartal 2022 gab es nur 306 antisemitische Straftaten, darunter elf Gewaltdelikte.

    Es ist seit geraumer Zeit bekannt, dass die Fallzahlen antisemitischer Straftaten, die dem rechten Spektrum zugeordnet werden, systematisch fehlerhaft erfasst werden. Der Tagesspiegel wies bereits vor Jahren auf den Missstand hin, ungelöste Fälle zur Kategorie „PMK-rechts“ zu zählen, selbst wenn die Kategorie „nicht zuzuordnen“ angemessener wäre. Diese Praxis führt zu einer erheblichen Verzerrung der Statistik und verschleiert die tatsächliche Verbreitung antisemitischer Einstellungen. Dieses Problem bleibt jedoch in sämtlichen aktuellen Meldungen unberücksichtigt. Auch der Tagesspiegel selbst übernimmt die Behauptungen zur Motivlage der Vorfälle diesmal ungeprüft.

    Hintergrund politisch motivierter Kriminalität bleibt häufig unbekannt

    Die vergleichsweise niedrige Aufklärungsquote politisch motivierter Kriminalität insgesamt, die im Jahr 2022 bei knapp 42 Prozent lag, lässt an der Darstellung des Bundesinnenministeriums zweifeln. Besonders deutlich wird dies, wenn man zum Vergleich die Jahresberichte des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) für das Jahr 2022 heranzieht. Dessen Berichterstattung wird vom Bundesinnenministerium (BMI) gefördert. Die Gesamtzahl der Vorfälle ist ähnlich hoch wie diejenige, die behördlich beim BKA erfasst und später ebenfalls durch das BMI veröffentlicht wird. Aber RIAS stellt deutlich heraus, dass ganze 53 Prozent der Straftaten im Jahr 2022 einen unbekannten Hintergrund hatten und 21 Prozent dem verschwörungsideologischen Milieu zuzuordnen waren. Einen rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Hintergrund fand RIAS bei 13 Prozent der antisemitischen Straftaten.

    Die BMI-Statistik zur politisch motivierten Kriminalität zeigt, dass im Jahr 2022 mit 82,7 Prozent der überwiegende Teil der antisemitischen Straftaten dem rechten Spektrum zugeordnet wurde. Nimmt man an, dass die Aufklärungsquote etwa dem Durchschnitt bei politisch motivierter Kriminalität entspricht, so wurden von insgesamt 2.641 Fällen gut 58 Prozent, also 1.536, nicht aufgeklärt, aber als rechts motivierte Straftaten gezählt. Ohne diese ergeben sich lediglich 649 Fälle, die sicher dem rechten Spektrum zugeordnet werden können – ein Anteil von 24,6 Prozent an der Gesamtzahl. Auch für die Zahlen aus der Kleinen Anfrage der Linksfraktion an die Bundesregierung, die von den Medien unkritisch aufgegriffen wurde, reduziert sich der Anteil gesichert rechts motivierter Fälle auf jeweils knapp ein Viertel der Gesamtzahl.

    Verzerrte Statistiken behindern Kampf gegen Antisemitismus

    Das bedeutet nicht, dass Rechtsextremismus kein wesentliches Motiv antisemitischer Vorfälle ist. Denn auch unter den nicht aufgeklärten Fällen (und nicht zuletzt in der Dunkelziffer) mögen sich zahlreiche finden, deren Täter aus dem rechten Spektrum stammen. Allerdings weist RIAS deutlich darauf hin, dass verschwörungsideologische Motive insbesondere in der Coronapandemie der Haupttreiber judenfeindlicher Straftaten waren. Eine derartige Kategorie taucht in der BMI-Statistik jedoch nach wie vor nicht auf.

    Die offizielle Statistik leidet also unter gleich zwei Problemen. Erstens werden Fälle systematisch falsch zugeordnet. Zweitens fehlt eine wichtige Kategorie, um den Hintergrund antisemitischer Vorfälle vollständig richtig einordnen zu können. Beides zusammen verführt dazu, Statistiken zum Werkzeug politischer Narrative zu missbrauchen. Egal welcher politischen Einstellung man sich selbst zuordnet: Dass mit solchen Zahlen eine verzerrte Realität konstruiert wird, birgt die große Gefahr, dass wir blind werden für ein möglicherweise zunehmendes Risiko. Denn mithilfe sozialer Medien und generativer KI verbreiten sich Fake News und damit Verschwörungstheorien heute exponentiell. Wer den drohenden Anstieg judenfeindlicher Einstellungen wirksam bekämpfen will, der darf sich nicht von falschen Statistiken in die Irre führen lassen – oder wie zahlreiche deutsche Medien sogar dazu beitragen, diesen Irrtum zu bestärken.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447


    Originalpublikation:

    https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/detail/an...


    Weitere Informationen:

    http://www.unstatistik.de – Hier geht es zur Homepage der „Unstatistik des Monats“.
    http://Bei Weiterverbreitung von Texten aus der Reihe "Unstatistik des Monats" muss klar erkennbar sein, dass es sich um die Übernahme eines fremden Textes handelt. Zudem ist die Quelle https://www.unstatistik.de zu nennen. Bitte informieren Sie die Pressestelle des RWI über die Verwendung des Textes unter presse@rwi-essen.de. Das Urheberrecht bleibt bestehen.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, jedermann
    fachunabhängig
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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