Vor 75 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet und mit ihr in Artikel 14 das Recht auf Asyl. Der Grundsatz fand anschließend Eingang in die Europäische Menschenrechtskonvention sowie das Grundgesetz. Vor dem Hintergrund der asylpolitischen Reformvorhaben in Deutschland und in der Europäischen Union erinnert der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) an die völkerrechtliche Verantwortung. Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten sieht er besonders kritisch.
„Wir beobachten zurzeit eine sehr impulsiv geführte Debatte. Gewaltsame Konflikte in Europa und der Welt haben zu großer Besorgnis geführt. Krieg und Terror, Armut und Perspektivlosigkeit, der voranschreitende Klimawandel – zahlreiche Menschen kommen nach Europa, suchen Schutz und neue Chancen. Das verunsichert viele Menschen in Deutschland und der EU. Darauf muss die Politik reagieren. Das Anliegen, Migration effektiver zu steuern, ist also nachvollziehbar. Bei der Gestaltung und Umsetzung der diskutierten asylpolitischen Reformvorhaben müssen aber die menschen- und asylrechtlichen Standards gewahrt werden. Die eine schnelle Lösung wird es nicht geben: Die Herausforderungen sind vielfältig, deshalb muss an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht werden“, erläutert der SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Hans Vorländer.
Besonders kritisch verfolgt der Sachverständigenrat die Diskussion um eine Verlagerung von Asylverfahren in Transit- oder Drittstaaten. Wie von Bund und Ländern Anfang November beschlossen, soll die Machbarkeit derartiger Verfahren geprüft werden. Ein entsprechendes Abkommen der britischen Regierung mit Ruanda wurde vom Obersten Gerichtshof in London jüngst als rechtswidrig eingestuft. Die Begründung: Ruanda könne nicht als sicherer Drittstaat eingestuft werden. Auch die Erfahrungen, die Australien mit der Auslagerung von Asylverfahren gemacht hat, zeigen, wie hoch der juristische, finanzielle und logistische Aufwand ist.
„Die bisherigen Vorschläge zu einer Externalisierung von Asylverfahren werfen erhebliche politische, juristische und operative Fragen auf. Das gilt vor allem für die Beachtung des in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Prinzips der Nichtzurückweisung. Aber auch das Verbot der kollektiven Ausweisung sowie den Anspruch auf Zugang zu effektivem Rechtsschutz sehen wir in Gefahr. Hier gibt es völkerrechtliche Verpflichtungen, die wahrgenommen werden müssen“, so Prof. Vorländer.
Bereits 2017 hat sich der Sachverständigenrat mit Fragen einer extraterritorialen Asylpolitik beschäftigt und festgestellt, dass die Auslagerung asylrechtlicher Verfahren an sehr viele Voraussetzungen gebunden ist. So ist zum Beispiel zu klären, welche rechtlichen Grundlagen in Zentren außerhalb der EU gelten und durch wen Asylanträge dort bearbeitet würden. „Die Auslagerung von Asylverfahren wirft eine Fülle von Fragen auf; sie setzt zudem eigentlich voraus, dass die Asylpolitik in der EU grundlegend harmonisiert und solidarisch gestaltet wird. Personen mit festgestelltem Schutzbedarf würden dann über einen gerechten Verteilschlüssel in der EU aufgenommen. Das ist nicht absehbar und im Übrigen auch nicht Teil der aktuellen Pläne zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“, sagt der SVR-Vorsitzende.
Zudem stellt sich die Frage, in welchen Ländern Aufnahmezentren eingerichtet werden sollen und wie gewährleistet werden kann, dass dort Verfahren unter Einhaltung europäischer Asyl- und Menschenrechtsstandards umgesetzt werden können. „Dazu hat sich bislang noch kein Land bereit erklärt“, so der SVR-Vorsitzende. „Auch die praktischen Konsequenzen einer solchen Verlagerung sind völlig unklar. So könnten derartige Zentren einen Pull-Effekt haben und die Antragszahlen eher vergrößern.“
Grundsätzlich ist aber eine enge Zusammenarbeit mit Drittstaaten unerlässlich, auch im Flüchtlingsschutz. Dazu braucht es nach Ansicht des SVR mehr und bessere Migrationsabkommen. „Dabei darf die Verantwortung aber nicht einfach ausgelagert, sondern muss geteilt werden. Hier geht es um die Öffnung regulärer Zugangswege im Bereich der Arbeitsmigration und Migration zum Zweck der Aus- und Weiterbildung.“ Der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung handelt derzeit mit einigen Staaten solche Vereinbarungen aus. „Das ist natürlich wichtig. Wirkungsvoller sind diese Abkommen aber, wenn sie auf EU-Ebene abgeschlossen werden“, so Prof. Vorländer.
Ebenfalls in der Diskussion – und ein zentraler Punkt des derzeit verhandelten Kompromisses zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) – ist eine noch stärkere Verlagerung von Asylverfahren an europäische Außengrenzen. Die Bundesregierung unterstützt, wie im Bund-Länder-Beschluss vom 6. November bestätigt, diesen Vorschlag: Asylsuchende, die nur eine geringe Aussicht auf Schutz in der EU haben, sollen bereits an den EU-Außengrenzen ein Asylverfahren durchlaufen. Grenzverfahren dieser Art müssen laut Sachverständigenrat jedoch rechtssicher ausgestaltet werden. Dies gilt für die Unterbringung, die etwaige anschließende Abschiebung sowie das Verfahren selbst. Betroffene Asylsuchende müssen deshalb zu jedem Zeitpunkt Zugang zu einer unabhängigen Rechtsberatung haben.
„Hier sehen wir die größten Herausforderungen, denn das System kann schnell dysfunktional werden. Es gilt, ausreichend Kapazitäten für die Erstaufnahme bereitzustellen und Schutzkonzepte für besonders vulnerable Gruppen zu entwickeln und umzusetzen. Schließlich braucht es aber auch hier einen wirksamen Solidaritätsmechanismus, an dem sich alle EU-Staaten beteiligen – sonst wird es nicht funktionieren“, mahnt der SVR-Vorsitzende. „Das ist angesichts der Aufnahmezahlen auch für Deutschland essentiell. Darauf muss die Bundesregierung in den EU-Beratungen hinwirken.“
Ziel müsse sein, die Migrationspolitik in eine Gesamtstrategie einzubetten sowie Instrumente und Verfahren auf EU-Ebene zu koordinieren. „Die europäischen Staaten werden diese Herausforderungen nur gemeinsam meistern können. Hausaufgabe der Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, ist es, die Voraussetzungen für eine reibungslose Umsetzung der gemeinsamen Asylpolitik zu verbessern. Das gilt für eine gut organisierte und angemessene Aufnahme von Asylantragstellenden, eine wirksame Integrationspolitik wie eine effektive und rechtskonforme Rückführungspraxis. Im Bereich der Behörden gibt es noch Verbesserungspotenziale: Kompetenzen müssen gebündelt, Behörden personell besser ausgestattet und Verwaltungsabläufe stärker vereinheitlicht und digitalisiert werden“, so Prof. Vorländer.
Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger.
Weitere Informationen unter: https://www.svr-migration.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Deutsch
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