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04.01.2024 10:51

Werte und Traditionen des klassischen Musikbetriebs behindern Wandel zur Nachhaltigkeit

Dr. Bianca Schröder Presse und Kommunikation
Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

    Orchester, Ensembles und Konzerthäuser beschäftigen sich zunehmend mit Nachhaltigkeit – sowohl im Sinne der Verringerung von Umweltauswirkungen als auch auf einer diskursiven Ebene, etwa in Form von Konzerten, die programmatisch auf die Nachhaltigkeit Bezug nehmen. Leistet der klassische Konzertbetrieb damit einen wesentlichen Beitrag zu gesellschaftlichen Transformation? RIFS-Forschende sehen Verbesserungsbedarf: Viele Akteure gingen das Thema Nachhaltigkeit zu wenig selbstkritisch an.

    Für ihre Studie führten Gina Emerson und Manuel Rivera Interviews mit 25 Mitgliedern eines deutschen Orchesters, analysierten 13 Interviews, die auf dem Blog des Orchesters des Wandels – einer etablierten Nachhaltigkeitsinitiative – erschienen sind, und verglichen die Aussagen mit sechs „Diskursbeispielen“, wie öffentlichen Deklarationen, Positionspapieren und Projektbeschreibungen von Institutionen. Dabei stießen sie auf ausgeprägte Beharrungskräfte: Sowohl Musikerinnen und Musiker als auch Institutionen zeigten nur an ausgewählten Aspekten nachhaltiger Entwicklung Interesse und übten kaum Kritik an gängigen Verhaltensweisen in der Branche.

    Selbstkritik als Voraussetzung für Veränderung

    Als Indiz für transformative Wirkung nahmen die Forschenden die Ausprägung von Selbstkritik. „Selbstkritik ist eine wichtige Bedingung dafür, dass Akteurinnen und Akteure an den Strukturen der eigenen Praxis ansetzen, mit dem Ziel, zu komplexen Veränderungsprozessen beizutragen. Je selbstkritischer Akteurinnen und Akteure sind, desto reflektierter sind ihre Routinen und desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Transformationen in ihren Institutionen ermöglichen können“, erläutert Gina Emerson. Während in den institutionellen Publikationen kaum selbstkritische Äußerungen zu finden waren, brachten die Interviews mit den Orchestermusikerinnen und -musiker eine große Bandbreite an Reflexionen zutage. Die Forschenden identifizierten drei Typen: die Kritisch-Motivierten, die Einverstandenen und die Aufmerksamen.

    In allen 25 Interviews fanden sich Kernaspekte des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses wieder, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Ökologische Grenzen waren insgesamt am präsentesten, tauchten aber nur selten in Form einer expliziten Erwähnung von planetaren Grenzen oder Kipppunkten auf. Globale Auswirkungen des Überschreitens dieser Grenzen nannten nur sehr wenige Befragte. Gerechtigkeitsaspekte, etwa Hinweise auf Ungleichheiten zwischen verschiedenen Teilen der Welt oder verschiedenen Generationen, tauchten bei den Kritisch-Motivierten und den Aufmerksamen immer wieder auf.

    Die Kritisch-Motivierten zogen insgesamt häufiger globale Beispiele für Klimawandelphänomene heran und warfen einen gut informierten Blick auf verschiedene Kern- und Randphänomene der Nachhaltigkeit. Zugleich zweifelten sie auch Routinen des klassischen Musikbetriebs überdurchschnittlich stark an, zum Beispiel in Hinblick auf den Tourneebetrieb. Die Einverstandenen äußerten solche Kritik sehr selten, sie strichen vielmehr den gesellschaftlichen Wert des Orchestermusizierens heraus. Beim Gedanken an den Klimawandel nannten sie vor allem Trauer über Naturzerstörung.

    Die Aufmerksamen unterscheiden sich von den Kritisch-Motivierten in zweierlei Hinsicht. Bei ihnen ist der Glaube an den gesellschaftlichen Auftrag von klassischer Musik schwächer ausgeprägt, zudem bejahten sie die Frage nach der eigenen Verantwortung in der Klimakrise nicht klar oder bezogen sie nicht auf den Orchesterbetrieb, sondern auf eigene Rollen außerhalb des Orchesters – etwa als Elternteil oder private Verbraucherin.

    Wenig Beachtung für soziale Aspekte der Nachhaltigkeit

    In den öffentlich zugänglichen Blog-Interviews zeigte sich noch stärker die Tendenz, Nachhaltigkeit auf Umweltfragen zu verengen, während Gerechtigkeitsfragen nur von einem einzigen Interviewten angesprochen wurden. Die positive Wirkmacht der klassischen Musik wurde häufig betont.

    „Insgesamt sind wir in den Interviews und Dokumenten häufig dem Wunsch nach einer Vorbildfunktion des klassischen Musikbetriebs begegnet. Daran wird aber auch ein Zwiespalt in Bezug auf gesellschaftliche Relevanz deutlich: Einerseits engagiert man sich für Nachhaltigkeit oder spricht sich zumindest dafür aus, um die eigene gesellschaftliche Daseinsberechtigung zu verteidigen. Andererseits befördert die Priorisierung musikalischer Exzellenz und ‚Hochleistung‘ den Impuls, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und sich auf die angeblich sowieso schon immer nachhaltige Kunst zu konzentrieren. Dieser Widerspruch steht einer tiefgehenden, transformativen Nachhaltigkeitsbewegung in der klassischen Musik im Wege“, sagt Manuel Rivera.

    Die historisch etablierten Werte der Exzellenz und der Bewahrung eines als unbeweglich verstandenen kulturellen Erbes erzwingen das Beibehalten der Spielregeln und behindern praktische Schritte zur Entschleunigung des Konzertbetriebes, so das Fazit der Forschenden.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Manuel Rivera
    manuel.rivera@rifs-potsdam.de


    Originalpublikation:

    Emerson, G., Rivera, M. (2023). Selbstbestätigung und Selbstkritik durch Nachhaltigkeit im klassischen Musikbetrieb. Soziologie und Nachhaltigkeit, Bd. 9, Nr. 2,
    https://doi.org/10.17879/sun-2023-5255


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Musik / Theater, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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