idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
16.01.2024 12:14

Dammbruch von Brumadinho: Die Gefahr kam nach der Stilllegung

Peter Rüegg Hochschulkommunikation
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)

    2019 barst in einer brasilianischen Eisenerzmine der Damm eines Absetzbeckens. Die Schlammlawine führte zu einer Katastrophe für Mensch und Umwelt. Ein Forscherteam der ETH Zürich hat jetzt den physikalischen Mechanismus aufgeklärt, der das Unglück ausgelöst haben dürfte.

    Die Katastrophe unweit der Kleinstadt Brumadinho im Südosten Brasiliens ereignete sich kurz nach Mittag: Am 25. Januar 2019 barst in einer Eisenerzmine der Damm eines Absetzbeckens, in dem schlammige, feinkörnige Rückstände aus der Erzaufbereitung (‘Tailings’) lagerten. Eine gewaltige Lawine aus rund zehn Millionen Kubikmetern Schlamm überschwemmte das Minengelände, zerstörte benachbarte Siedlungen und riss eine Eisenbahnbrücke mit sich. Mindestens 270 Menschen fanden den Tod. Das Ökosystem des Paraopeba-​Flusses unterhalb der Mine wurde ruiniert. Obwohl der Damm mit einem Monitoringsystem überwacht wurde, hatte niemand die Katastrophe vorhergesehen.

    Der Dammbruch von Brumadinho zog mehrere Prozesse gegen die Minengesellschaft Vale und die Prüforganisation TÜV Süd nach sich. Letztere hatte dem Staudamm noch kurz vor dem Unglück eine hinreichende Standfestigkeit attestiert. Vale wurde zu einer Schadenersatzzahlung von umgerechnet rund sechs Milliarden Euro verurteilt. Ein Untersuchungsausschuss vermutete langsame mikroskopische Verschiebungen (sogenanntes Kriechen) in den abgelagerten Tailingsschichten als Ursache des Unglücks, konnte dies aber nicht mit einem glaubwürdigen physikalischen Mechanismus belegen. Insbesondere blieb unklar, warum der Damm ausgerechnet im Jahr 2019 brach – also erst drei Jahre nachdem das Absetzbecken letztmals mit neuen Tailings beladen worden war, und warum vor dem Dammbruch keine signifikanten Verschiebungen festgestellt wurden.

    Physikalischen Mechanismus aufgeklärt

    Aufklärung der Katastrophe von Brumadinho leistet nun eine Studie von Professor Alexander Puzrin, Vorsteher des Instituts für Geotechnik der ETH Zürich und Experte für die Modellierung von Erdrutschen. Die Arbeit erscheint im Fachmagazin externe SeiteCommunications of Earth and Environmentcall_made. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Ursachen des Dammbruchs mit einem Modell untersucht und dabei einen physikalischen Mechanismus identifiziert, der das Bergbauunglück erklärt.

    Das Absetzbecken für Tailings war ab 1976 errichtet worden. Wie in der Erzgewinnung üblich, wurde der Erddamm des Beckens in den folgenden Jahren mehrfach um einige Meter aufgestockt, um zusätzlichen Platz für die Einlagerung von Aufbereitungsrückständen zu schaffen. Dabei wurden die Dammstufen ähnlich wie die Stufen einer Treppe aufeinandergesetzt (Upstream-​Prinzip). Zuletzt bestand der Damm aus zehn Stufen und war 86 Meter hoch. Als das Bauwerk im Januar 2019 brach, geschah dies zuerst auf der Höhe der zweiten Dammstufe. In der Folge kollabierten sämtliche zehn Stufen des Erddamms und wälzten sich zusammen mit den aufgestauten Tailings als Schlammlawine ins Tal.

    Kriechverformungen nach der Stilllegung

    Die Arbeit des Teams um Alexander Puzrin zeigt nun, wie es soweit kommen konnte. Gemäss den neuen Erkenntnissen entstanden bereits beim Bau des Damms auf der Höhe der zweiten Dammstufe in den aufgestauten Tailings einige Gleitflächen. Diese hatten über Jahrzehnte nur ein begrenztes Ausmass und blieben unauffällig. Nach der Stilllegung des Absetzbeckens im Jahr 2016 aber – so legen die Modellierungen des ETH-​Teams nahe – weiteten sich die Gleitflächen horizontal aus und erreichten schliesslich eine kritische Ausdehnung. In der Folge setzten sich die Tailingsschichten in Bewegung, liessen den Damm durch ihr Gewicht bersten und verursachten die todbringende Schlammlawine.

    Die Ursache für das Wachstum der Gleitfläche sind nach dem Modell sogenannte Kriechverformungen. Das sind kleinste, langsame Erdverschiebungen in den feinkörnigen, spröden Tailings, die durch die ungleiche Druckverteilung in den darüber liegenden Ablagerungen hervorgerufen werden. «Andere Auslöser wie Regenfälle und Bohrungen können das Wachstum der Gleitfläche zwar beschleunigen», sagt Puzrin, «aber unser Modell zeigt, dass Kriechverformungen allein ausreichen, damit die Gleitfläche die kritische Ausdehnung für einen Dammbruch erreicht.»

    Der Befund ist in doppelter Hinsicht beunruhigend: Die für die Katastrophe ursächliche Gleitfläche entstand offenbar zu einem Zeitpunkt, als das Absetzbecken nicht mehr mit neuen Tailings beladen wurde, also ohne zusätzliche äussere Belastung. Und: Das Wachstum der Gleitfläche führte zu keiner deutlichen äusseren Verformung des Damms, welche das Monitoringsystem hätte erkennen können.

    ETH-​Modell ermöglicht Risikoanalyse

    Absetzbecken für Aufbereitungsrückstände aus dem Abbau von Eisenerz und anderen mineralischen Gesteinen werden weltweit in grosser Zahl genutzt. Seit 2000 wurden jährlich fünf bis sechs Fälle registriert, in denen Dämme aus verschiedenen Gründen beschädigt wurden oder versagten. Nach der Katastrophe von Brumadinho und ähnlichen Unglücken hat Brasilien Absetzbecken mit Dämmen nach dem Upstream-​Prinzip stillgelegt. Die ETH-​Studie zeigt nun allerdings, dass die Gefahr keineswegs gebannt ist, wenn ein Absetzbecken nicht mehr mit neuen Tailings beladen wird.

    Dammbrüche wie in Brumadinho lassen sich durch klassische Monitoringsysteme bisher nicht vorhersehen. Die ETH-​Studie schafft hier nun neue Möglichkeiten: «Unser Modell kann für bestehende Dämme eine Risikoanalyse durchführen und die Wahrscheinlichkeit eines Dammbruchs vorhersagen», sagt Puzrin. Wird ein hohes Risiko festgestellt, sind verschiedene Massnahmen denkbar: Die Gefahr lässt sich durch Abpumpen des Wassers aus den Bohrungen in Absetzbecken reduzieren. Oder das Absetzbecken wird zurückgebaut. In dringenden Fällen können gefährdete Dörfer zum Schutz der Bevölkerung vorübergehend evakuiert werden, bis die Gefahr gebannt ist.

    Beitrag zu Sicherheit von Erddämmen

    Die Erkenntnisse der ETH-​​Studie sind relevant für alle Absetzbecken für Aufbereitungsrückstände aus dem Erzabbau. Denn immer wenn die Rückstände aus feinkörnigem, sprödem Material bestehen, können sich im ungünstigen Fall Gleitflächen bilden, über die das abgelagerte Material ins Rutschen gerät und den Damm beschädigt.

    Nicht direkt vergleichbar ist die Situation bei Stauseen, bei denen ein Erddamm Wasser aufstaut. Allerdings können die neuen Erkenntnisse auch hier einen Beitrag zur Sicherheit leisten, wie Alexander Puzrin festhält: «Unsere Erkenntnisse geben Hinweise, wie die Sicherheit von Erddämmen im Erdbebenfall weiter verbessert werden kann. Insofern leistet unsere Arbeit einen Beitrag zur generellen Sicherheit von Stauanlagen.»


    Originalpublikation:

    Zhu F, Zhang W and Puzrin AM. (2023) The slip surface mechanism of delayed failure of the Brumadinho tailings dam in 2019, Communications of Earth and Environment. doi: 10.1038/s43247-​023-01086-9


    Weitere Informationen:

    https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2024/01/dammbruch-von-...


    Bilder

    Die Schlammlawine kam ohne Vorwarnung und zerstörte das Minengelände, angrenzende Siedlungen und eine Eisenbahnbrücke. 270 Menschen kamen ums Leben.
    Die Schlammlawine kam ohne Vorwarnung und zerstörte das Minengelände, angrenzende Siedlungen und ein ...

    (Bild: Eric Marmor / IDF Spokesperson, CC BY-​SA 3.0, Wikimedia Commons)

    Schon früh entstanden in den Ablagerungen des Absetzbeckens kurze Gleitflächen (oben). Diese wuchsen nach der Stilllegung durch Kriechverformungen (Mitte) und erreichten die kritische Länge (unten), die zum Dammbruch führte.
    Schon früh entstanden in den Ablagerungen des Absetzbeckens kurze Gleitflächen (oben). Diese wuchsen ...

    (Grafik: IGT/ETH Zürich)


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geowissenschaften, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Die Schlammlawine kam ohne Vorwarnung und zerstörte das Minengelände, angrenzende Siedlungen und eine Eisenbahnbrücke. 270 Menschen kamen ums Leben.


    Zum Download

    x

    Schon früh entstanden in den Ablagerungen des Absetzbeckens kurze Gleitflächen (oben). Diese wuchsen nach der Stilllegung durch Kriechverformungen (Mitte) und erreichten die kritische Länge (unten), die zum Dammbruch führte.


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).