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08.02.2024 13:00

Heimbeatmung verlangsamt Krankheitsprogression bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS)

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    ALS führt als chronische neurodegenerative Erkrankung innerhalb weniger Jahre zu schwerer Behinderung und Tod. Eine nichtinvasive nächtliche Atemunterstützung (NIMV) kann die Symptome des Atemversagens lindern, die Lebensqualität verbessern und das Überleben verlängern. Eine Studie [1] zeigte nun erstmals, dass die NIMV auch zu einer signifikanten Verlangsamung des motorischen bzw. funktionellen Krankheitsverlaufs führt. Die Optimierung der NIMV mit frühzeitigem Beginn stellt damit einen bedeutenden Fortschritt in der Versorgung Betroffener dar.

    Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine chronisch degenerative Erkrankung von motorischen Nervenzellen (Motoneuronerkrankung) bei Erwachsenen, meist nach dem 50. Lebensjahr (Inzidenz 1-3/100.000). Es kommt typischerweise zu Muskelschwund und Paresen von Armen und Beinen sowie Sprech- und Schluckstörungen. Durch die fortschreitende Beteiligung der Atemmuskulatur kommt es zu Atemversagen.

    Eine kausale Therapie gibt es bisher nicht. Der Krankheitsverlauf kann mit einem neuroprotektiven Medikament, Riluzol, verzögert werden, eine Heilung ist bislang nicht möglich. Mit verschiedenen symptomatischen Therapien können heute Lebenszeit und -qualität positiv beeinflusst werden – dazu zählt auch die nichtinvasive Heimbeatmung (NIMV, nichtinvasive mechanische Ventilation).
    Die NIMV unterstützt die Lungenfunktion und verlangsamt deren Abnahme. Sie gilt laut den aktuellen Leitlinien [2] als lebensverlängernd, symptomatisch wirksam und daher lebensqualitätsverbessernd. Ihr Effekt auf die motorische bzw. funktionelle Progression der Erkrankung wurde bisher in Fachkreisen kontrovers diskutiert.

    Eine neue Studie [1] untersuchte nun retrospektiv in einer großen Kohorte von 448 ALS-Patientinnen und -Patienten des ALS-Zentrums in Turin (Italien), ob die Atemunterstützung auch das Fortschreiten der Erkrankung positiv beeinflussen kann. Als Messgröße diente die Rate des funktionellen Rückgangs basierend auf den nicht-respiratorischen Elementen der ALSFRS-R Skala („Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating Scale-Revised“). Dabei werden zwölf einzelne Aspekte erfasst, darunter Schluckfunktion, Armfunktion (Gebrauch von Alltagsgegenständen) und Beinmuskulatur (z.B. Treppensteigen). Normalwerte sind je Aspekt =4 Punkte (keine Funktion =0 Punkte), die Gesamtpunktzahl beträgt 48.

    Im Ergebnis konnte die Studie erstmals zeigen, dass der Beginn einer NIMV den Rückgang der nicht-respiratorischen ALSFRS-R-Werte signifikant verlangsamt (mittlere Verbesserung bzw. Verlangsamung des funktionellen Rückgangs um 0,16 Punkte pro Monat, p<0,001). Der günstige Einfluss der NIMV auf das Fortschreiten des ALSFRS-R war besonders deutlich für die nächtliche Atemunterstützung und er war unabhängig von der Krankheitsschwere, dem ALS-Stadium, vom Ort des Krankheitsbeginns (d.h. erstbetroffene Muskelgruppen), von Alter, Geschlecht und dem Vorliegen einer kognitiven Beeinträchtigung. Diese Ergebnisse wurden in einer anderen ALS-Kohorte, dem PRO-ACT-Datensatz, bestätigt.

    Nach Ansicht des Autorenteams unterstreichen die Ergebnisse die Bedeutung der rechtzeitigen NIMV-Einleitung für alle ALS-Betroffenen, da ein früher Beginn der NIMV den gesamten Verlauf der ALS erheblich verbesserte. Dies bedeute, dass auch bei ALS-Erkrankten ohne offensichtliche pulmonale Symptome eine regelmäßige Lungendiagnostik erfolgen und bei entsprechenden Befunden eine NIMV begonnen werden sollte. Da bei fehlenden subjektiven Atemproblemen die Therapietreue zur NIMV jedoch nicht immer gegeben sei, sollte die Bedeutung der NIMV hinsichtlich der Verlangsamung des Krankheitsverlaufs mit den Betroffenen genau besprochen werden, um im Verlauf die NIMV-Adhärenz zu sichern. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Studienergebnis, dass künftige ALS-Therapiestudien mit Progredienz als Endpunkt eine NIMV unbedingt berücksichtigen müssten. Da die positive NIMV-Wirkung unmittelbar eintritt, wird die statistische Bewertung einer NIMV als „potenzieller Störfaktor“ (z.B. bei Testung neuer Medikamente) empfohlen.

    „Die Ergebnisse liefern wertvolle Informationen, um künftig den richtigen Zeitpunkt zur Einleitung der NIMV zu definieren“, so Prof. Dr. med. Tim Hagenacker, Essen, stellvertretender Sprecher der Kommission Motoneuron- und neuromuskuläre Erkrankungen der DGN. „Sie könnten in absehbarer Zeit sogar eine Implikation für eine Leitlinien-Anpassung darstellen, denn bisher wird die NIMV erst als indiziert empfohlen, wenn relativ deutliche Symptome vorliegen wie z.B. typische Beschwerden der chronischen Hypoventilation, erhöhte Kohlendioxid-Blutwerte oder eine Verschlechterung bestimmter Lungenfunktionsparameter. Der Zeitpunkt müsste in Zukunft vorverlegt werden, wenn sich die Studienergebnisse weiter bestätigen.“

    [1] Grassano M, Koumantakis E, Manera U, Canosa A, Vasta R, Palumbo F, Fuda G, Salamone P, Marchese G, Casale F, Charrier L, Mora G, Moglia C, Calvo A, Chiò A. Giving Breath to Motor Neurons: Noninvasive Mechanical Ventilation Slows Disease Progression in Amyotrophic Lateral Sclerosis. Ann Neurol. 2024 Jan 29. doi: 10.1002/ana.26875. Epub ahead of print. PMID: 38284771.
    [2] Ludolph A., Petri S., Grosskreutz J. et al., Motoneuronerkrankungen, S1-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 05.02.2024)

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Leiterin der DGN-Pressestelle: Dr. Bettina Albers
    Tel.: +49(0)30 531 437 959
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 12.300 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Lars Timmermann
    Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Daniela Berg
    Past-Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Generalsekretär: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Originalpublikation:

    doi: 10.1002/ana.26875


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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