idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
02.04.2024 11:00

Schläfenlöcher im Schädel von Sauriern und Menschen durch Fressweise gebildet

Antje Karbe Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Beim Beißen und Kauen wirken Kräfte unterschiedlich auf Schädel – Forscher erklären Formenvielfalt im Laufe der Evolution

    Ob Mensch oder Saurier: Im Schädel der meisten Landwirbeltiere klafft im Schläfenbereich ein Loch, im Falle der meisten Reptilien sogar zwei. Seit 150 Jahren suchen Wissenschaftler nach Erklärungen für diese Schädelformen. Ein Forscherteam der Universität Tübingen und der Ruhr-Universität Bochum zeigt nun in einer Studie: Je nachdem wie und wo im Maul Nahrung festgehalten, zerbissen und zerkaut wird, ändern sich die Kräfte, die auf einen Schädel wirken – und führen im Laufe der Jahrmillionen zur Bildung von Knochenverbindungen oder eben Öffnungen. Durch diese Erkenntnis kann die Lebensweise ausgestorbener Tiere besser rekonstruiert werden.

    „Die Vielfalt der Schädel- und Knochenformen wurde von Paläontologen und Zoologen ausführlich beschrieben – aber den Ursprung der Schläfenspangen und -öffnungen und was sie über die Biologie und über die Verwandtschaft der Tiere aussagen, konnte bisher nicht überzeugend erklärt werden“, sagt PD Dr. Ingmar Werneburg vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen und Kustos der Paläontologischen Sammlung der Universität.

    „Unser Modell geht von dem Gedanken aus, dass Knochenmasse nur an Stellen gebildet werden kann, wo Druckspannungen existieren“, sagt Professor Holger Preuschoft, emeritierter Funktionsmorphologe am Anatomischen Institut der Ruhr-Universität Bochum und Co-Autor der Studie, die nun im Fachjournal The Anatomical Record erschienen ist. „Außerdem muss an den Stellen der Knochenbildung mechanische Ruhe herrschen. Es darf also keine Bewegung stattfinden, die zur Bildung eines Falschgelenks, einer Pseudarthrose, führen könnte.“

    Auch der Mensch hat eine große Schläfenöffnung über dem Jochbogen. Durch sie zieht der Kiefermuskel zum Unterkiefer hinab. Beim Kauen lässt sich die Bewegung dieses Muskels in der weiten Schläfenöffnung ertasten. Bei vielen Saurierarten sind die Öffnungen ganz unterschiedlich geformt. Die beiden Wissenschaftler verglichen Dutzende Schädel von Landwirbeltieren aus mehreren Millionen Jahren Evolutionsgeschichte.

    „Wenn Tiere vorne im Kiefer - etwa mit Hilfe von Fangzähnen - fest zubeißen, breiten sich nach Ansicht der Wissenschaftler über und unter den Augen und zum Hals hin große Spannungen aus und führen zur Bildung von Knochenspangen in der Schläfe“, so Werneburg. Bei Reptilien komme ein weiterer Effekt hinzu: Sie beißen vorrangig hinten im Kiefer, wo ein kürzerer Hebelarm vom Kiefergelenk aus mehr Beißkraft ermöglicht. „Auch hier entsteht eine Druckspannung, die einen Knochensteg hinter dem Auge bedingt. Kommt diese nun mit der oberen Spannung des vorderen Bisses in Kontakt, werden beide Kraftströme teilweise umgelenkt und es kann sich ein zweiter Jochbogen ausbilden.“ An Schädeln von heute noch lebenden Tierarten hat Holger Preuschoft in früheren Studien die Wirkung dieser Kräfte experimentell nachgewiesen und auch getestet, ab welcher Belastung Knochen brechen. Diese Erkenntnisse wendet die Studie nun erstmals auf die Evolutionsgeschichte von Wirbeltieren an.

    Wenn das Tier seine Beute schüttelt oder Blätter von einer Pflanze abreißt, entstehen zusätzlich seitliche Scherkräfte, die zu weiteren Modifikationen der Schläfengestalt führen. Die einwirkenden Kräfte werden in einem Kraftkreis an die Ausgangsstelle der Krafteinwirkung im Gebiss zurückgeführt, auch mithilfe der Kiefermuskulatur. „Sonst wäre der Schädel nicht stabil und würde zerspringen“, so Preuschoft.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    PD Dr. Ingmar Werneburg, Dipl. Biol.
    Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment
    Universität Tübingen
    Telefon +49 7071 29-73068
    ingmar.werneburg@senckenberg.de


    Originalpublikation:

    Ingmar Werneburg & Holger Preuschoft (2024). Evolution of the temporal skull openings in land vertebrates: a hypothetical framework on the basis of biomechanics. Anatomical Record 307(4): 1559-1593. In: Felipe L. Pinheiro, Flávio A. Pretto, & Leonardo Kerber (2024). The Dawn of an Era: Comparative and Functional Anatomy of Triassic Tetrapods. Special Issue, https://doi.org/10.1002/ar.25371


    Bilder

    Kräfte, die beim Fressen auf den Schädel des Menschen und eines frühen Sauriers (Stenaulorhynchus stockleyi), der vor 280 Millionen Jahren in Europa gelebt hat, einwirken.
    Kräfte, die beim Fressen auf den Schädel des Menschen und eines frühen Sauriers (Stenaulorhynchus st ...

    Universität Tübingen


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geowissenschaften
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Kräfte, die beim Fressen auf den Schädel des Menschen und eines frühen Sauriers (Stenaulorhynchus stockleyi), der vor 280 Millionen Jahren in Europa gelebt hat, einwirken.


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).