Würzburger Forschende widersprechen der Aussage eines US-Psychologen. Mit einem Thesenpapier wollen sie eine sachliche und wissenschaftlich fundierte Diskussion anstoßen.
Haben die sozialen Medien zu einem massiven Anstieg psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen geführt? Der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt vertritt diese These in seinem Buch „The Anxious Generation: How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness“.
Ein Team aus dem Lehrstuhl für Kommunikationspsychologie und Neue Medien der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) hält Haidts Darstellung für zu einseitig und holzschnittartig. Die Forschenden beziehen genau jetzt Stellung, weil Haidts Buch Mitte Juni 2024 in einer deutschen Übersetzung auch hierzulande auf den Markt kommt („Generation Angst: Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“).
„Wir begrüßen öffentliche Debatten über die Auswirkungen sozialer Medien, doch scheint uns Haidts Standpunkt in seiner Einseitigkeit eher zu einer Vernebelung der Sachlage beizutragen“, schreiben Professor Markus Appel, Dr. Silvana Weber und Dr. Fabian Hutmacher. Darum haben die drei Forschenden ein Thesenpapier verfasst, das eine sachliche und wissenschaftlich fundierte Diskussion des Themas anstoßen soll:
Fünf Punkte zur Einordnung des Sachbuchs „Generation Angst“ von Jonathan Haidt
Die Publikation „The Anxious Generation: How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness“ (in Kürze auf Deutsch erhältlich unter dem Titel „Generation Angst“) von Jonathan Haidt hat in den USA eine Debatte zu den Risiken von digitalen Medien neu angefacht. Gut so – denn sowohl der Umgang mit digitalen Medien als auch die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind gesellschaftlich und sozial relevante Themen. Haidt entwickelt hierzu ein dystopisches Narrativ und spricht eine besorgte Öffentlichkeit an. Doch wichtige Fakten blendet er dabei aus. Die folgenden fünf Punkte scheinen dabei besonders zentral:
1. Die Ausgangslage ist USA-spezifisch. Die von Haidt konstatierte drastische Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Social Media und Co. werden global intensiv genutzt, doch die Trends im Hinblick auf die psychische Gesundheit sind weltweit sehr unterschiedlich: So lassen sich die von Haidt identifizierten Trends aus den USA nicht ohne Weiteres auf andere Weltregionen übertragen. Auch in Deutschland stellt der hohe Stand an psychischen Erkrankungen insbesondere nach der Coronazeit eine gesellschaftliche Herausforderung dar. Für Deutschland ist aber auch festzuhalten, dass Suizide bei Kindern und Jugendlichen seit den 1980er Jahren erfreulicherweise sehr viel seltener geworden sind, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen.
2. Digitale Medien dienen als Sündenbock. Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hängt von zahlreichen Faktoren und deren komplexem Zusammenspiel ab. Digitale Medien als hauptsächliche kausale Ursache für die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen anzuführen, vernachlässigt die Wichtigkeit anderer Einflussgrößen – wie etwa die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, die gesamtwirtschaftliche Lage, den Klimawandel oder politische Polarisierung. Auch im Hinblick auf die US-amerikanische Gesellschaft, auf die sich Haidt fokussiert, liegt die Vermutung nahe, dass andere Faktoren eine wichtige Rolle für die beobachtete Verschlechterung der psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen spielen. Dazu zählen ein ineffektives Gesundheitssystem und die Opioid-Krise, die die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ebenfalls massiv beeinträchtigt.
3. Haidts wissenschaftliche Begründung ist mangelhaft. In seinem Buch pickt sich der Autor selektiv diejenigen empirischen Befunde zum Einfluss digitaler Medien auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen heraus, die seine These stützen. Den kompletten wissenschaftlichen Sachstand gibt er nicht ausgewogen wieder. Verschiedene quantitative Zusammenfassungen der Forschungslage zeigen: Die Zusammenhänge zwischen Social-Media-Nutzung und Indikatoren von Wohlbefinden sind sehr klein, sowohl bei Studien mit nur einem Messzeitpunkt als auch bei Studien, die über längere Zeiträume Daten erfassen. Man kann ferner beobachten: Je aufwändiger und besser die Methodik der jeweiligen wissenschaftlichen Studien ist, desto kleiner fallen die Zusammenhänge aus. Für die Annahme, dass Social-Media-Nutzung die Ursache für eine schlechtere psychische Gesundheit eines größeren Teils der Kinder und Jugendlichen darstellt, finden sich in meisten Studien keine Belege.
4. Viele Jugendliche profitieren von sozialen Medien. Hunderte Studien zeigen: Viele Kinder und Jugendliche profitieren in der Summe von sozialen Medien, etwa indem sie Kontakte mit Gleichaltrigen oder Familienmitgliedern vertiefen oder Freude am kreativen Umgang mit Medien entwickeln. Für andere hingegen stehen negative Prozesse wie etwa soziale Vergleiche im Vordergrund. Hass und Hetze im Netz sowie Cyberbullying/Cybermobbing stellen eine Gefahr für die psychische Gesundheit dar. Beide Aspekte – positive wie negative – sind gleichermaßen gut belegt.
5. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Haidts „Generation Angst“ dürfte bei vielen Eltern und Lehrpersonen eines auslösen: Angst. Doch Angst ist oft ein schlechter Ratgeber und führt nicht selten zu extremen und wenig effektiven Reaktionen. In der Medienerziehung sind das radikale Verbote einerseits oder das Meiden des Themas und Nichtstun andererseits. Viele Studien zeigen hingegen, dass es vielmehr darum gehen sollte, Kinder und Jugendliche im Umgang mit Medien aktiv und kompetent zu begleiten. Darüber hinaus sollten Technologiekonzerne verpflichtet werden, Inhalte sorgfältiger zu prüfen und potenziell schädliche Inhalte mit Warnhinweisen zu versehen. Und das nicht nur in der EU oder den Vereinigten Staaten, sondern weltweit. Technologiekonzerne haben eine globale Verantwortung, der sie aktuell nicht gerecht werden.
Zum Weiterlesen
Die drei Forschenden haben vor kurzem mit weiteren Herausgeberinnen und Herausgebern das erste deutschsprachige Lehrbuch zur Psychologie der Online- und Mobilkommunikation veröffentlicht. Darin versuchen sie, einen differenzierten Standpunkt zu den drängenden medialen Fragen unserer Zeit zu vertreten.
„Digital ist besser?! Psychologie der Online- und Mobilkommunikation.“ Appel, M., Hutmacher, F., Mengelkamp, C., Stein, J.-P., & Weber, S. (Hrsg.). Springer 2023, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66608-1
Prof. Dr. Markus Appel, markus.appel@uni-wuerzburg.de
Dr. Silvana Weber, silvana.weber@uni-wuerzburg.de
Dr. Fabian Hutmacher, fabian.hutmacher@uni-wuerzburg.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Medien- und Kommunikationswissenschaften, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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