Digitale Plattformen verändern und beeinflussen wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse auf vielfältige Weise. Welchen Einfluss sie auf die Einzelhandelsbranche haben, das erforscht die Würzburger Wirtschaftsgeographin Sina Hardaker.
Die zunehmende Plattformisierung des Einzelhandels ist am Beispiel der Onlinehandelsplattformen am augenscheinlichsten zu beobachten. 30 Jahre ist es her, dass Jeff Bezos Amazon gründete. Was als elektronische Buchhandlung begann, hat sich in den USA und Europa als unangefochtene Nr. 1 im E-Commerce etabliert. Für den stationären Einzelhandel hat sich seitdem vieles geändert. Die Nutzung von Onlinemarktplätzen und Social Media-Plattformen wie Meta, Instagram, Pinterest und TikTok sind als Kommunikations- oder gar Vertriebskanäle nicht mehr wegzudenken. Dadurch werden auch Arbeitsabläufe und -prozesse im stationären Handel gänzlich neu definiert.
Ein Forschungsprojekt an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) möchte diese Entwicklungen nun unter die Lupe nehmen. Welche Plattformen spielen eine Rolle? Wie weit ist die Plattformisierung fortgeschritten? Welche Legitimierungen liegen diesen Prozessen zu Grunde und in welche Abhängigkeiten begeben sich Händlerinnen und Händler möglicherweise?
Geleitet wird das Vorhaben mit dem Titel „Die Rolle digitaler Plattformen in der (räumlichen) (Re-)Konfiguration des stationären Einzelhandels“ von der Wirtschaftsgeographin Dr. Sina Hardaker. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das auf drei Jahre ausgelegte Projekt mit rund 300.000 Euro.
Digitale Plattformen weiter auf dem Vormarsch
Im deutschen Einzelhandel arbeiten über drei Millionen Menschen in etwa 300.000 Unternehmen. Mit rund 650 Milliarden Euro war die Branche im Jahr 2023 für ca. 17 Prozent des deutschen Bruttoinlandprodukts verantwortlich. Knapp 80 Milliarden Euro wurden dabei online umgesetzt – Tendenz steigend.
Davon entfielen wiederum 63 Prozent auf digitale Marktplätze – allein 53 Prozent auf Amazon. Weitere Akteure, allen voran chinesische Plattformen wie Temu, drängen zusätzlich verstärkt auf den Markt – mit weitreichenden Auswirkungen auf Waren- und Wertschöpfungsketten, weiß Sina Hardaker: „Sehr unterschiedliche Plattform-Modelle wirken auf den deutschen Einzelhandel ein und beeinflussen direkt oder indirekt die täglichen Arbeitsabläufe stationärer Händler*innen und reorganisieren Kommunikations- und Absatzkanäle neu. Diese Entwicklung bietet enorme Möglichkeiten, setzt den stationären Handel aber auch weiter unter Druck, Geschäftsmodelle und Strategien sowie Standort- und Investitionsentscheidungen anzupassen.“
Die kontroverse Rolle digitaler Plattformen
Während der Corona-Pandemie, als Lockdowns dem Einzelhandel zu schaffen machten, wurden Onlineplattformen vom Handelsverband Deutschland (HDE) als Problemlösung empfohlen. „Solche Empfehlung legitimieren bestimmte Plattformanbieter, die Nutzung kann allerdings auch Risiken für Händler*innen mitbringen“, analysiert Sina Hardaker. In Zeiten des anhaltenden Strukturwandels ringen unterschiedliche Akteure um Einfluss und Mitsprache bei der Gestaltung der Zukunft des innerstädtischen Einzelhandels. Denn auch digitale Plattformen wie Amazon und eBay versuchen inzwischen aktiv, stationäre Händlerinnen und Händler für den Verkauf auf Plattformen zu gewinnen. Städtische Akteure unterstützen dies aufgrund der digitalen Sichtbarkeit und der potenziellen Überlebenschance der Geschäfteteils aktiv.
„Damit haben wir eine kontroverse Situation. Wenn wir wissen und beeinflussen wollen, wie Einzelhandelssysteme in Zukunft aussehen, welche Rolle sie in Innenstädten spielen und wie sie sich räumlich manifestieren, dann müssen wir dringend auch die Rolle digitaler Plattformen stärker miteinbeziehen“, fordert Sina Hardaker.
Deutschlandweite Befragung
„Es fehlt eine ganzheitliche Betrachtung der Rolle und Reichweite von digitalen Plattformen und ihren räumlichen Auswirkungen im stationären Einzelhandel sowie eine Konzeptualisierung von Plattformen“, so Sina Hardaker weiter. Entsprechend stehen gerade die folgenden Fragen im Fokus des Projekts: Wie wirken sich die Nutzungen konkret auf Abläufe und Arbeitsweisen der Händlerinnen und Händler aus? Welche wirtschaftlichen, sozialen und räumlichen Konsequenzen gehen mit der Plattformisierung einher? Inwieweit handelt es sich bei verschiedenen Onlineplattformen um verfestigte Infrastrukturen? Inwieweit reorganisieren bzw. erschaffen sie Produkte, Konsummuster und Arbeitspraktiken auf lokaler bzw. stationärer Ebene?
Um diesen und weiteren Fragen nachzugehen, werden Sina Hardaker und ihr Team zunächst kleine und mittelständische Einzelhändlerinnen und -händler befragen. Die so gewonnenen Erkenntnisse bilden anschließend die Grundlage einer vollstandardisierten, deutschlandweiten Befragung.
In der dritten Phase sollen durch Expert*inneninterviews mit Vertreter*innen von Einzelhandelsverbänden, Digitalisierungsinitiativen, Wirtschaftsförderungen, Handelskammern, Forschenden sowie Plattformen die wechselseitigen Entwicklungen des stationären Einzelhandels und digitaler Plattformen analysiert werden.
Der Startschuss für das Projekt soll noch in diesem Jahr erfolgen.
Dr. Sina Hardaker, Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie, Tel: +49 931 31-83152, E-Mail: sina.hardaker@uni-wuerzburg.de
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