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19.06.2024 10:00

Wenn Hilfe zum Risikofaktor wird: Die Einsatzkräfte des Terroranschlags von 9/11 leiden häufiger an Demenz

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Die intensive Belastung durch Feinstaub und andere Luftschadstoffe und Chemikalien, welcher tausende Helfer und Helferinnen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 im Rahmen von Rettungs-, Bergungs- und Aufräumarbeiten ausgesetzt waren, führten zu einem erhöhten Demenzrisiko. Dies ergab eine prospektive Kohortenstudie, die eine mehr als zehnmal so hohe Demenzinzidenz vor dem 65. Lebensjahr bei den am stärksten exponierten Helfenden zeigte (gegenüber jenen mit geringer Exposition, z. B. durch Tragen von Schutzausrüstung).

    In den letzten Jahren gibt es zunehmend Hinweise auf Zusammenhänge der Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen wie Demenzen mit der Exposition gegenüber Umweltbelastungen mit Stauben, Chemikalien und anderen Noxen. 2023 zeigte eine nationale Kohortenstudie in den Vereinigten Staaten [1], dass eine langfristige Belastung mit Feinstaub (PM 2,5) mit signifikant höheren Demenzinzidenzen, speziell von Alzheimer-Erkrankungen, assoziiert ist. Als Treiber der Pathomechanismen gelten vor allem Sulfate (SO42-) und Ruß, die bei Verbrennung fossiler Brennstoffe und im Verkehr entstehen.

    Eine aktuell im „Journal of the American Medical Association“ publizierte longitudinale Follow-up-Studie [2] evaluierte Daten eines akademischen medizinischen Überwachungsprogramms, bei dem Auswirkungen auf die kognitiven Leistungsfähigkeit von Einsatzkräften und Helfenden nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center (WTC) im Jahr 2001 zwischen November 2014 und Ende 2022 erhoben wurden. Bei der Erstuntersuchung waren die Teilnehmenden maximal 60 Jahre alt und hatten keine Hinweise auf eine Demenz. Sie wurden durchschnittlich alle 18 Monate bis zu fünf Jahre lang auf Einschränkungen kognitiver Funktionen nachuntersucht. Die Stratifizierung nach dem Schweregrad der Belastung („WTC-Exposition“) erfolgte in fünf Kategorien (niedrige, milde, moderate, hohe oder extrem hohe Exposition), basierend auf detaillierten Fragebögen zu den Arbeiten direkt am Ground Zero und anderen expositionsbezogenen Aktivitäten (z. B. Müll- und Schuttdeponien mit Feinstaub und potenziell neurotoxischen Substanzen), Dauer der Arbeit und Verwendung von persönlicher Schutzausrüstung. Endpunkt war das Auftreten von Demenzen aller Ursachen vor dem 65. Lebensjahr; die Diagnose erfolgte nach Standardkriterien anhand wiederholter Überprüfungen der kognitiven Fähigkeiten.

    Von 9.891 WTC-Exponierten konnten 5.010 in der Studie zur kognitiven Funktion ausgewertet werden (48-57 Jahre alt, median 53; 91,3 % männlich). In der 15.913 Personenjahren entsprechenden Nachbeobachtung wurden 228 Demenzdiagnosen gestellt. Betroffen waren drei von 342 Menschen (mit niedriger Exposition), 106/2.805 (mit milder Exposition), 76/1.450 (mit moderater Exposition), 31/324 (mit hoher Exposition) und zwölf von 89 (mit extrem hoher Exposition).

    Mit zunehmender Schwere der Exposition ging somit ein stufenweiser Anstieg der Demenz-Inzidenzrate (IR) pro 1.000 Personenjahre einher: Bei niedriger Exposition betrug die IR 2,95 (Angaben für die Allgemeinbevölkerung liegen bei 1,19); bei leichter WTC-Exposition bei 12,16, bei mittelschwerer 16,53, bei hoher 30,09 und bei sehr hoher Exposition 42,37. Dieser Zusammenhang blieb auch nach Korrektur potenzieller sozialer, demografischer und medizinischer Störfaktoren (z. B. Bildungsniveau, psychische Belastungsfolgen, Diagnosen wie Bluthochdruck oder Kopfverletzungen) statistisch signifikant. Nach der Adjustierung war jede Erhöhung der Belastungsschwere um eine Einheit mit einer signifikant erhöhten Demenzrate verbunden (adj. HR 1,42; p<0,001; mittlere Risikodifferenz 9,74 pro 1.000 Personenjahre; p<0,001).

    Als zentrale Stärke der vorliegenden Studie wird die Entwicklung der Schweregrad-Skala genannt, welche die Art der von den WTC-Einsatzkräften ausgeführten Arbeit, die Dauer und Intensität der Belastung sowie die Verwendung von Schutzausrüstung berücksichtigt. Die Studie bestätigt frühere Arbeiten, die bereits nahelegten, dass Staub und Trümmer des WTC Neurotoxine enthielten. So wiesen serologische Studien bei kognitiv beeinträchtigten WTC-Einsatzkräften auf hochregulierte neuroimmunologische Makrophagenreaktionen sowie eine mögliche Rolle von phosphoryliertem Tau und damit einhergehender Neurodegeneration hin. Bildgebungsstudien gaben Hinweise auf eine Glia-Aktivierung und Entzündung des Hippocampus bei starker Exposition. Weitere Arbeiten zur Identifizierung der Mechanismen könnten Behandlungsziele für WTC-Einsatzkräfte und andere Menschen mit inhalierten Neurotoxinen liefern. Zukünftige Forschung müsse auch zerebrale Biomarker für Personen mit expositionsbedingter Demenz identifizieren.

    Beim Blick in die globale Zukunft wird klar, dass aktuelle Kriege wie in der Ukraine und im Gaza-Streifen weitaus mehr Langzeitopfer haben werden als unmittelbar sichtbar sind. Anders als bei typischen Industrieunfällen, wo das Tragen von spezieller Schutzausrüstungen selbstverständlich ist, ist dies bei Rettungs-, Bergungs- und Aufräumarbeiten mit hoher Staubexposition (nach Gebäudeeinsturz, Bombeneinschlägen, Erdbeben, Vulkanausbrüchen etc.) nicht der Fall; zumal hier meist spontan auch hunderte von Freiwilligen im Einsatz sind.

    „Diese Menschen müssen möglichst geschützt werden“, erklärt Prof. Dr. Peter Berlit, DGN-Generalsekretär. „Die konsequente Verwendung von Schutzausrüstung kann dazu beitragen, Entstehungen von Demenzen vor dem 65. Lebensjahr in Folge solcher Einsätze zu verhindern. Hierfür muss ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit geschaffen werden, und Rettungsdienste, Feuerwehren, aber auch spontan helfende Bürgerinnen und Bürger sollten entsprechend ausgestattet werden oder zumindest FFP2-Masken tragen.“

    [1] Shi L, Zhu Q, Wang Y et al.. Incident dementia and long-term exposure to constituents of fine particle air pollution: A national cohort study in the United States. Proc Natl Acad Sci U S A. 2023 Jan 3; 120 (1): e2211282119

    [2] Clouston SAP, Mann FD, Meliker J et al. Incidence of Dementia Before Age 65 Years Among World Trade Center Attack Responders. JAMA Netw Open. 2024 Jun 3; 7 (6): e2416504; doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.16504

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Leiterin der DGN-Pressestelle: Dr. Bettina Albers
    Tel.: +49(0)174/216 562 9
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 12.300 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Lars Timmermann
    Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Daniela Berg
    Past-Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Generalsekretär: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Friedrichstraße 88, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Originalpublikation:

    doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.16504


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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