Bildung und Erziehung, Kindheit und Jugend in der DDR waren und sind bis heute Gegenstand unterschiedlicher Erzählungen und Erinnerungen. Wie war es genau und wie entstand dabei der Stoff für vielfältige Mythen? Mit diesen Fragen befasst sich der bildungshistorische Forschungsverbund „MythErz“. Ergebnisse seiner Arbeit sind nun auf einer digitalen Wissensplattform frei zugänglich – darunter Analysen und viele Quellen wie Aufzeichnungen aus dem Unterricht, Lehrfilme oder Kindheits- und Jugenderzählungen.
„Mit der Plattform wollen wir unsere Forschungsergebnisse möglichst anschaulich und mit vielfältigen Zugangsmöglichkeiten für die Öffentlichkeit aufbereiten“, erläutert Prof. Dr. Sabine Reh, Direktorin der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, die das neue Portal bereitstellt.
Die BBF bildet gemeinsam mit der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Hildesheim und der Universität Rostock den Projektverbund „Bildungsmythen über die DDR – eine Diktatur und ihr Nachleben“ (MythErz). Die wissenschaftlichen Arbeiten werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Die Verbundpartner untersuchen in Fallstudien wirkmächtige Bilder und Narrative über Bildung, Erziehung und Schule der DDR, die die Diktatur überdauerten. Sie dienten nach der Wiedervereinigung oft auch der positiven Erinnerung und wurden in diesem Sinne verdichtet oder verändert. Für ihre Analysen nutzen die Forschenden unerschlossene Bild-, Text-, Ton- und Film-Quellen, darunter Kinderbuch-Illustrationen, Ausschnitte aus Unterrichtsfilmen und Passagen aus Briefen. Die jetzt im neuen Portal aufbereiteten Befunde richten sich an alle inhaltlich Interessierten. Die Forschenden hoffen auf eine breite Nachnutzung der Quellen und Daten in Forschung, Lehre und Unterricht.
Die Mythen
In den Arbeiten von MythErz werden Bildungsmythen kulturwissenschaftlich analysiert und in ihrer Funktionsweise herausgearbeitet. Mythen sind dabei als oft wiederholte Narrative definiert, deren einzelne Elemente und Motive zusammen genommen für Gruppen bedeutsam und sinnstiftend sind und um deren Deutung gerungen wird. Beispielsweise wird gezeigt, wie wichtig in der DDR das schon ältere Narrativ von „Fortschritt durch Wissenschaft“ war. In ihm sind gesellschaftlicher Fortschritt und Wissenschaft eng miteinander verknüpft und Naturwissenschaft wird zu einem entscheidenden Referenzpunkt für Bildung. Der DDR-Erzählung folgend gelang die Vermittlung wissenschaftlicher Bildung dank der angeblich fortschrittlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus besser als im kapitalistischen Westen.
Diesem offiziellen Anspruch folgend wurde in der DDR von Beginn an Wert auf die „Wissenschaftlichkeit“ des Unterrichts gelegt. Einen großen Schwerpunkt bildete der naturwissenschaftliche Unterricht – nicht nur in den oberen Klassenstufen. Das hieß vor allem, dass die Lehrkräfte den Unterricht an wissenschaftlicher Systematik orientierten. Lehrfilme für den Unterricht zeigten stereotype und emotional wirkende Bilder einer ausschließlich guten, weil „parteilichen“, d.h. dem Interesse des Sozialismus entsprechenden Naturwissenschaft und von engagierten, dem Volk dienenden Naturwissenschaftler*innen. Zugleich vermittelten die Lehrkräfte in Fächern wie Deutsch und Geschichte moralische Entscheidungen oder Deutungen von Literatur häufig als wissenschaftlich begründete Tatsachen. Die Idee eines an Wissenschaftlichkeit ausgerichteten DDR-Unterrichts hallte über die Wende hinaus nach. Allerdings bezogen sich Lehrkräfte nach 1989 eher – und anders als in der DDR propagiert – auf das Motiv einer neutralen Wissenschaft.
Das ist nur ein Beispiel für die auf der Plattform in ihrer Entwicklung dargestellten Bildungsmythen. „Bildung für alle“ ist eine weitere zentrale Erzählung, die eigentlich einen Kern-Mythos im gesamten mitteleuropäischen Bildungswesen seit dem 18. Jahrhundert darstellt. In der DDR spielte er aber eine besondere Rolle – etwa beim Transfer des eigenen Bildungssystems in die sogenannten „Entwicklungsländer“ wie Mosambik. Ein anderes Beispiel ist das Narrativ von der auch durch Bildung erreichten „Geschlechtergerechtigkeit“, ein wichtiges Element des Staatsverständnisses in der DDR. Die Vorstellung von Gerechtigkeit bezog sich jedoch in erster Linie auf die Integration von Frauen in die Berufs- und Arbeitswelt. Care- und Erziehungsarbeit blieb „Frauensache“ – wie ein Blick auf Kinder- und Schulbuchillustrationen zeigt. Die Besucher*innen der Plattform können sich von all diesen Mythen und ihrer Entwicklung ein differenziertes Bild machen und sie kritisch reflektieren.
Die Wissensplattform und weitere Informationen
Der Titel des neuen Online-Angebots ist „Wissensplattform zu Bildungsmythen in der langen Geschichte der DDR“. Den Interessierten bieten sich drei Haupteinstiegsmöglichkeiten: über die Mythen, über die Quellen und über ein Glossar. Alle Inhalte sind miteinander verlinkt. Inhaltlich stehen die Mythen und das reichhaltige und multimediale Quellenmaterial im Vordergrund. Die zu Forschungszwecken akquirierte Quellensammlung ist erstmals frei zugänglich. Für eine schnelle Orientierung im Thema und ein leichteres Verständnis DDR-typischer Begrifflichkeiten sorgt das Glossar. Es kann direkt als Einstieg genutzt oder aus den Texten bei bestimmten Begriffen aufgerufen werden. Zusätzlich ist eine Suche nach Personen und Schlagworten integriert.
https://bildungsmythen-ddr.de
Einen tieferen Einblick in die Forschungsarbeiten zu den DDR-Bildungsmythen bieten am Samstag, 22. Juni 2024, zwei Vorträge der BBF-Expertinnen Cäcilia von Malotki und Nele Herzog bei der Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin – im Haus der Leibniz-Gemeinschaft, Chausseestraße 111, 10115 Berlin (U-Bahn-Station Naturkundemuseum), erstes Obergeschoss:
• 18:00-18:45 Uhr
Umkämpfte Erinnerung – Schulunterricht in der DDR, wie er wirklich war?
Der Vortrag zeichnet das Thema anhand einer der ersten medialen Debatten über Schule und Unterricht in der DDR in der Wendezeit nach: den Diskussionen rund um das Essay der DDR-Autorin Christa Wolf „Das haben wir nicht gelernt“ aus dem Herbst 1989.
• 21:00-21:45 Uhr
Was verraten uns alte Lehrfilme über den DDR-Schulunterricht?
An einem Originalausschnitt des Lehrfilms „Von Pädagogen für Pädagogen - die individuellen Unterschiede“ aus dem DDR-Schulfernsehen zeigen die Forscherinnen, was sie durch Beobachten und Kontextualisieren über den Schulunterricht in der DDR erfahren und worauf sie achten, wenn sie historische Quellen untersuchen und interpretieren.
Über das DIPF:
Das DIPF ist das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation mit Standorten in Frankfurt am Main und in Berlin. Es will dazu beitragen, Herausforderungen in der Bildung und für das Erforschen von Bildung zu bewältigen. Dafür unterstützt das Institut Schulen, Kindertagesstätten, Hochschulen, Wissenschaft, Verwaltung und Politik mit Forschung, digitaler Infrastruktur und Wissenstransfer. Übergreifendes Ziel seiner Aktivitäten ist eine qualitätsvolle, verantwortliche, international anschlussfähige und Gerechtigkeit fördernde Bildung, die zudem bestmöglich erforscht werden kann.
https://www.dipf.de
Über die BBF:
Die BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin ist eine Forschungsbibliothek mit herausragenden Bibliotheks- und Archivbeständen und einem breiten digitalen Angebot zur deutschen Bildungsgeschichte in ihren internationalen Bezügen. Sie ist ein Zentrum der historischen Bildungsforschung in Deutschland und gehört zum DIPF.
https://bbf.dipf.de
Ansprechpartnerin für die Presse:
Anke Wilde, +49 (0)69 24708-824, a.wilde@dipf.de, pr@dipf.de
Nele Herzog, +49 (0)30 293360-933, n.herzog@dipf.de
https://bildungsmythen-ddr.de Link zur neuen Wissensplattform
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Pädagogik / Bildung
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
Deutsch
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