Eine umfangreiche Weltchronik mit dem Titel Polychronicon und Predigthandbücher gehören zu den wenigen überlieferten Werken von Ranulph Higden, einem der bekanntesten englischen Gelehrten des späten Mittelalters. Bei Recherchen in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz haben zwei Forscher aus Berlin und von der Universität Göttingen nun einen überraschenden Fund gemacht: Die Wissenschaftler stießen auf einen Text, bei dem es sich um Higdens verloren geglaubtes Handbuch zur lateinischen Grammatik handelt.
Higden lebte von etwa 1295 bis 1363/4 und war Mönch und vermutlich Bibliothekar in der Benediktinerabtei St. Werburgh in Chester. Mit Hilfe der dortigen Buchbestände verfasste er unter anderem das Polychronicon, das bis in seine Gegenwart um 1340 reicht und heute immer noch in mehr als 100 Handschriften überliefert ist. Nahezu vollkommen in Vergessenheit geraten sind hingegen seine Kalenderlehre und das Petagogicum super Donatum, ein Handbuch zur lateinischen Grammatik, das auch einen Kommentar zur Standardgrammatik des Donatus (4. Jahrhundert) enthält. Dieses Grammatikhandbuch taucht in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Katalogen unter dem auffälligen Titel Petagogicum auf, galt aber bislang als verschollen, da kein einziges Exemplar bekannt war.
Der Mediävist Dr. Dirk Schultze von der Universität Göttingen katalogisiert und bearbeitet zurzeit mittelenglische Texte, die in Handschriften in Deutschland überliefert sind. „Bei solchen Projekten hofft man natürlich auf spektakuläre Neufunde, aber nicht immer hat man solches Glück wie wir“, sagt Schultze. Bei der Bearbeitung eines Textfragments geriet der Trägerband plötzlich in den Mittelpunkt. Laut Katalog enthält dieser ein Petagogicum und eine Kalenderlehre, die keinem Autor zugeordnet waren. Obwohl zumindest die Kalenderlehre gelegentlich mit Ranulph Higden in Verbindung gebracht wurde, blieb das Petagogicum unbeachtet, und damit entging dieser Band der Forschung weitgehend.
Gemeinsam mit Dr. Bertram Lesser von der Abteilung Handschriften und Historische Drucke der Staatsbibliothek Berlin gelang es Schultze, anhand der Lokalisierung der Handschrift und unter Abgleich des Titels mit jahrhundertealten Katalogen und Indizes als Autor des Petagogicum Ranulph Higden zu identifizieren. Ein sicheres Erkennungsmerkmal war ein sogenanntes Akrostichon, eine Textgestaltung, bei der die Anfänge von Wörtern in Versen oder, wie hier, an Kapitelanfängen hintereinander gelesen einen eigenen Sinn ergeben. „Beide Texte tragen jeweils ein sich über viele Blätter erstreckendes Akrostichon mit dem Namen des Werks und des Autors, was bislang unentdeckt geblieben war“, erläutert Schultze. „Derartige Akrosticha hat Higden ab etwa 1340 verwendet, so dass sich die Berliner Handschrift hervorragend in das überlieferte Werk des Autors einfügt.“
Für die präzisere Lokalisierung der Schreiberhand, die für die Texte verantwortlich zeichnet, haben Lesser und Schultze gemeinsam mit englischen Kollegen die Berliner Handschrift mit einer Higden-Handschrift der kalifornischen Huntington Library verglichen. „Das Ergebnis zeigt, dass es sich bei unserer Handschrift um ein Werk aus derselben Schreibschule handelt. Angesichts der Datierung der Schrift um 1340 bis 1360 ist sie noch zu Lebzeiten des Autors – also praktisch in seiner Gegenwart und damit wahrscheinlich unter seiner Aufsicht – entstanden“, so Schultze und Lesser. „Näher kann man Ranulph Higden wohl kaum kommen, als es uns mit dieser Wiederentdeckung gelungen ist.“ Der Fachwelt wollen die Wissenschaftler ihren Fund demnächst in einer ausführlichen Besprechung vorstellen.
Dr. Dirk Schultze
Georg-August-Universität Göttingen
Philosophische Fakultät
Seminar für Englische Philologie
Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen
Telefon: (0551) 39-27577
E-Mail: dirk.schultze@phil.uni-goettingen.de
Internet: http://www.uni-goettingen.de/de/211375.html
https://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?id=7482 Foto
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Deutsch
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