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16.07.2024 11:42

Die unsichtbare Last: Wenn Kinder pflegen

Giulia Roggenkamp Pressestelle
Stiftung Kindergesundheit

    Minderjährige, die ihre Angehörigen pflegen, sind in Deutschland keine Seltenheit. Die Stiftung Kindergesundheit macht auf die alltäglichen Belastungen dieser unbeachteten Gruppe aufmerksam.

    Sie tragen die Verantwortung für Pflege und Haushalt und leben in ständiger Sorge um Ihre Liebsten. Als „Young Carers“ bezeichnet man Kinder und Jugendliche, die sich regelmäßig um kranke oder hilfsbedürftige Angehörige kümmern müssen. Die Gründe können vielfältig sein: Geschwister, Eltern oder andere Familienmitglieder haben eine Behinderung, körperliche Einschränkung, sind alkohol- bzw. drogenabhängig, haben eine chronische Krankheit, leiden an den Folgen eines Schlaganfalls, haben Krebs oder Multiple Sklerose. In Deutschland kümmern sich etwa 480.000 Jugendliche im Alter von 10 bis 19 Jahren um ihre hilfsbedürftigen Angehörigen. Das entspricht 6,1 % aller Jugendlichen in dieser Altersgruppe. In vielen Schulklassen weiterführender Schulen sitzen also betroffene Kinder oder Jugendliche.

    Eine chronische Krankheit verändert das Leben aller Familienmitglieder. Der Schweregrad der Krankheit und die daraus resultierende Hilfsbedürftigkeit bestimmen maßgeblich, wie stark der Alltag der Kinder und Jugendlichen davon beeinflusst ist. Auch die Familienstruktur – z.B. ob es sich um Alleinerziehende handelt oder ob Geschwister vorhanden sind – sowie die finanziellen Ressourcen spielen eine bedeutende Rolle. Je mehr belastende Faktoren zusammenkommen, desto stärker dominiert die Erkrankung das Leben der Familie und wird zur existenziellen Herausforderung. Dass Kinder und Jugendliche dadurch belastet sind, liegt auf der Hand. Es ist jedoch ein wesentlicher Unterschied, ob sie nur ab und zu bei einfachen Haushaltstätigkeiten helfen, oder für die Pflege fast gänzlich allein verantwortlich sind.

    Das eigene Leben wird zurückgestellt
    Die Aufgaben, die „Young Carers” übernehmen, sind vielfältig: Sie kochen, putzen, gehen einkaufen, pflegen, waschen, begleiten zu Terminen und vieles mehr. Je nach Bedarf übernehmen sie auch medizinische Tätigkeiten: Sie legen Verbände an, verabreichen Medikamente oder geben Spritzen. Viele springen ein, um die Aufgaben zu übernehmen, die durch den Ausfall des erkrankten Elternteils entstehen, z.B. das Kümmern um kleinere Geschwister. Sie sind in ständiger Alarmbereitschaft, auf Veränderungen, Bedrohungen oder Symptome der Krankheit ihrer Angehörigen reagieren zu müssen. Auch die Kommunikation mit Behörden, Ärztinnen und Ärzten sowie Krankenkassen kann Teil ihrer Aufgaben sein, ebenso wie finanzielle Angelegenheiten. So tragen „Young Carers” in einem jungen Alter schon eine große Verantwortung, wie sie sonst nur Erwachsenen vorbehalten ist. Ihr Tag wird durch die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen strukturiert. Für eigene Hobbys, Hausaufgaben und Freunde bleibt wenig Zeit. Oftmals ist ihnen nicht bewusst, wie groß ihre Belastung ist. Sie helfen, weil es für sie selbstverständlich ist.

    Zu viel Sorge und Verantwortung kann krank machen
    Die Stiftung ZQP befragte 2017 insgesamt 1.005 12- bis 17-Jährige zum Thema Pflege, darunter Jugendliche mit und ohne pflegebedürftige Angehörige. Einige Jugendliche, die Familienmitglieder pflegen oder dabei helfen, berichteten von einem größeren Selbstwertgefühl, mehr Reife im Vergleich zu ihren Altersgenossen und dem Gefühl, gut auf das Leben vorbereitet zu sein. Auf der anderen Seite sind „Young Carers” durch ihre familiären Aufgaben häufig stark belastet, sowohl körperlich als auch psychisch. Täglich sehen sie das Leid ihrer Angehörigen und mitunter auch eine Verschlechterung deren Zustandes. Sie sind müde, können sich schlechter konzentrieren und darunter können ihre Noten leiden. Es kann vorkommen, dass sie deshalb nicht versetzt werden oder sogar die Schule abbrechen. Ihre Bildungschancen sind nachweislich schlechter als die ihrer Altersgenossen. „Young Carers” sind nicht selten von psychosomatischen Symptomen wie Bauchschmerzen oder psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Burnout, Ess- oder Schlafstörungen betroffen.

    Schweigen aus Angst und Scham
    Trotz der potenziellen negativen Folgen reden betroffene Kinder und Jugendliche aus Scham und Vorsicht meist nicht über ihre Situation, selbst wenn sie diese als belastend empfinden. Sie sehnen sich nach Normalität und möchten nicht als anders wahrgenommen werden. Das Schweigen beruht auch auf der Angst vor einer möglichen Trennung durch Behörden, die die familiäre Situation als nicht tragbar einschätzen könnten. Dies führt oft dazu, dass betroffene Familien ihre Situation im Verborgenen halten.

    „Es ist wichtig, dass wir Verständnis für betroffene Familien zeigen und deren Bedürfnisse besser erkennen. Kein junger Mensch sollte mit dieser Last allein gelassen werden“, so Prof. Dr. med. Berthold Koletzko, Mediziner und Kinderarzt im Dr. von Haunerschen Kinderspital an der Universität München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. Er betont, dass neben Hilfsangeboten und Kontaktstellen auch eine politische Antwort auf die hohe Anzahl junger Pflegender in Deutschland notwendig ist: „Um diese Kinder und Jugendlichen besser zu unterstützen, müssen wir als Gesellschaft dringend handeln und gezielte Maßnahmen ergreifen. Eine bundesweite Awareness-Kampagne sollte das Bewusstsein für ihre Situation schärfen und durch Medien, Werbung und öffentliche Veranstaltungen unterstützt werden. Fachkräfte müssen regelmäßig fortgebildet und sensibilisiert werden, um die Bedürfnisse von ‘Young Carers’ zu erkennen und angemessen reagieren zu können. Dafür sind auch die Vernetzung und Kooperation von Akteuren aus dem medizinischen, pädagogischen und sozialen Bereich förderlich. Schulen und Kindergärten sollten verstärkt auf besondere Herausforderungen achten und gezielt Unterstützung anbieten. Pflegeberatungsstellen dürfen die Gruppe junger Pflegender nicht vernachlässigen und spezialisierte Hilfsangebote sollten breit beworben werden, damit ‘Young Carers‘ ohne Angst vor Konsequenzen Hilfe und Rat suchen können.”

    Hilfsangebote für junge Pflegende
    Junge Menschen, die Angehörige pflegen, werden häufig übersehen, da Unterstützungsangebote oft nur für erwachsene Angehörige oder Lebenspartner vorgesehen sind. Dies erschwert den Zugang zu Hilfeleistungen für die Betroffenen erheblich. Dennoch haben sich einige Hilfsangebote auf junge Menschen spezialisiert:

    https://www.andeinerseite-stiftung.org/ (Die An Deiner Seite - Gerhard und Gertrud Schmieder Stiftung unterstützt Familien und Nahestehende von Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung dauerhaft auf die Hilfe anderer angewiesen sind.)
    https://www.youngcarercoach.de/ (digitale Plattform, die aktuelle Neuigkeiten, Termine, Kontaktstellen sowie Möglichkeiten zum Austausch bietet)
    https://young-carers.de/ (Informations- und Hilfsplattform)
    https://www.echt-unersetzlich.de/ (Berliner Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene, die sich um kranke oder behinderte Familienmitglieder kümmern)
    https://www.pausentaste.de/ (Initiative des Bundesfamilienministeriums. Beratung, Unterstützungsangebote und Informationen)

    Weitere Informationen:
    Die ZDF-Dokumentation "37°: Große Last auf schmalen Schultern - Wenn Kinder ihre Eltern pflegen" bietet einen eindrücklichen Blick in die Lebensrealität von Young Carers: https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad/37-grosse-last-auf-schmalen-schultern-1...

    Eine Dokumentation des ORF ist unter https://on.orf.at/video/14217706/verstecktes-phaenomen-pflegende-kinder abrufbar.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Pädagogik / Bildung, Psychologie
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft
    Deutsch


     

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