Es gilt als Trivialwissen, dass die DDR-Belletristik die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit wahrgenommen hatte – sie habe hier übernommen, was die Massenmedien nicht leisteten. Gleichwohl macht die zeithistorische DDR-Forschung seit über drei Jahrzehnten einen Bogen um die sozial- und herrschaftsgeschichtliche Erschließung der Belletristik als Quellensorte. Für die Wissenschaft in der DDR wurde nun die einschlägige Literatur in einem Handbuch aufbereitet. Damit wird auch exemplarisch verdeutlicht, welche bisher ungenutzten Informationschancen die DDR-Belletristik insgesamt für zeitgeschichtliche Untersuchungen bereithält.
In den sieben Jahrzehnten von 1952 bis 2021 sind zum Thema „DDR-Wissenschaft und ihr Milieu“ von 114 Autor.innen 162 erzählende Texte mit 43.489 Seiten geschrieben worden. 111 der Titel stammen aus der Zeit bis 1990 und 51 Titel aus den Jahren nach 1990. Indem diese vorgestellt werden, wird eine literarische Chronik der DDR-Wissenschaft entfaltet. Sie bereitet zum einen die Belletristik zum Thema auf, dies im Stil Romanführers, der allerdings chronologisch nach Jahrzehnten geordnet ist. Zum anderen wertet sie die Literatur hinsichtlich ihres Informationswertes für zeitgeschichtliches Forschen und Verstehen aus.
Es zeigt sich: Mit dieser Literatur lassen sich manche spezifischen Nachteile neutralisieren, die andere zeithistorische Quellen aufweisen. Die Literatur hat nicht nur anders, sondern auch weitergehend über die Herrschafts- und Alltagsprozesse in der DDR-Wissenschaft informiert, als dies in den Medien, in wissenschaftlichen und politischen Texten der DDR geschah. Dass es in der DDR auch grundsätzliche Auseinandersetzungen gab über die Wege, Forschung zu organisieren, über Hochschulbildungskonzepte, zur Vereinbarkeit von privaten und beruflichen Ansprüchen, zu wissenschaftsfremden politischen Interventionen, Geschlechterfragen oder Konflikten zwischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen – all dies muss man aus den herkömmlich genutzten Quellen erst durch oft mühsame Decodierung andeutender Formulierungen erschließen, wenn es dort überhaupt auffindbar ist. Deutlicher steht vieles davon in den wissenschaftsbelletristischen Texten.
Die Handlungszeiten haben einen eindeutigen Schwerpunkt in den 60er Jahren (in 63 Titeln). Ebenfalls hohe wissenschaftsbelletristische Aufmerksamkeit fanden die 70er Jahre (in 48 Titeln). Elf der 51 nach 1990 entstandenen Texte befassen sich wesentlich mit den Umbauprozessen in der ostdeutschen Wissenschaft in den 90er Jahren. Die häufigsten Handlungsorte sind Berlin (49 Titel) bzw. liegen in den drei sächsischen Bezirken Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt (43 Texte). Die beiden größten DDR-Universitäten sind auch die am häufigsten vorkommenden Institutionen: die Humboldt-Universität zu Berlin (18 Titel) und die (Karl-Marx-)Universität Leipzig (27 Texte). Während einige der bekannteren DDR-Autoren darauf verzichtet haben, die Wissenschaftsverhältnisse oder das wissenschaftliche Milieu zu ihrem Thema zu machen (z.B. Peter Hacks, Heiner Müller oder Erwin Strittmatter), lassen sich auch Langstreckenläufer der Wissenschaftsbelletristik identifizieren: John Erpenbeck, Christoph Hein, Helga Königsdorf und Erik Neutsch. Sie trugen, zusammengenommen, allein 25 der insgesamt 162 Titel bei.
In der Figurengestaltung ist auffällig, dass in den Texten, die nach der DDR entstanden, die Sympathieträger häufig als tragische Figuren gezeichnet sind. In der Literatur bis 1990 dagegen war es vor allem ein Figurenmerkmal, das den Autor.innen am Herzen lag: der listig errungene Erfolg gegen Widerstände. Fortwährend musste das wissenschaftliche Personal bürokratische oder politische Engstirnigkeiten überwinden – und mit Stromlinienförmigkeit allein kam man da nicht weiter, so war hier die Botschaft. Sie verwies indirekt auf einen eigentümlichen Kontrast in der offiziellen Rhetorik der DDR: Diese forderte einerseits Normenkonformität – Plantreue, Orientierung am jeweils letzten Parteitag und ZK-Plenum, also der gerade aktuellen Parteilinie – und andererseits Kreativität beim Aufbau des Sozialismus, mithin das Gegenteil von Konformität.
Es wurden jedenfalls nicht allein erwünschte Entwicklungen gestaltet, sondern ebenso Probleme, Unzuträglichkeiten bis hin zu Ungeheuerlichkeiten im Wissenschaftsbetrieb. Dies ergab sich zwar schon aus literarischen Gründen, da ohne Konflikte kaum eine Handlung zu entwickeln ist. Zugleich aber leitete sich die Darstellung von Problemen und Unzulänglichkeiten aus einer von Autor.innen wie ihren Figuren ganz überwiegend bejahten Bindung an das sozialistische Projekt ab. Dabei finden sich unter den Titeln ebenso Dokumente eines historischen Optimismus wie solche der Desillusionierung.
Prof. Peer Pasternack, Email: peer.pasternack@hof.uni-halle.de
Peer Pasternack: Von Campus- bis Industrieliteratur. Eine literarische DDR-Wissenschaftsgeschichte, Tectum-Verlag, Baden-Baden 2024, 640 S.
https://www.hof.uni-halle.de/web/dateien/pdf/Pasternack_WissBell_InhVerz-u-Einl.... (Inhaltsverzeichnis und Einleitung)
https://www.hof.uni-halle.de/projekte/ddr-wissenschaftsbelletristik/
Pasternack: Von Campus- bis Industrieliteratur
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Pädagogik / Bildung, Sprache / Literatur
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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