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28.08.2024 10:00

Inklusion und Anerkennung: Neue Studie veröffentlicht

Gunnar Bartsch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

    Die Sonderpädagogin Dr. Hannah Nitschmann hat an Grundschulen untersucht, wie Differenzen körperlich ausgehandelt werden. Die Ergebnisse ihrer Beobachtungen hat sie jetzt als Buch veröffentlicht.

    So ein morgendlicher Stuhlkreis einer Grundschulklasse kann eine verzwickte Angelegenheit sein. Vor allem dann, wenn das eine Kind unbedingt an der Seite seines Freundes sitzen möchte, der die gleiche Muttersprache spricht, niemand neben dem Kind landen will, das als „Störenfried“ und „Zappelphilipp“ verrufen ist, und ein Junge die Nähe zu einem Mädchen unbedingt vermeiden will. Und je nachdem, wie deutlich und mit wie viel körperlichem Einsatz manche Kinder ihre Zu- beziehungsweise Abneigung deutlich machen, kann dies den friedvollen Start in den Tag gehörig durcheinanderbringen.

    Es sind Situationen wie diese, mit denen sich Dr. Hannah Nitschmann im Rahmen ihrer Doktorarbeit beschäftigt hat. Die Dynamik in Stuhlkreisen bildete zusammen mit weiteren Momenten des Schulalltags die Grundlage für ihre Forschung zum Thema „Inklusion und Anerkennung. Zur Körperlichkeit von Differenzaushandlungen im Unterricht“. So lautet denn auch der Titel ihrer Arbeit, die jetzt im Klinkhardt-Verlag erschienen ist.

    Anerkennung als Gelingensbedingung für Inklusion

    „In der pädagogischen Forschung versteht der aktuell dominierende Diskurs Anerkennung als Gelingensbedingung für Inklusion“, erklärt die Sonderpädagogin den Hintergrund ihrer Forschung. Die Tatsache, dass Menschen Verschiedenheit anerkennen und wertschätzen, ist demnach Voraussetzung beziehungsweise Zielsetzung der Inklusion. Dabei stellt sich nach Nitschmanns Worten allerdings die Frage, ob nicht diese Anerkennung ambivalent sein kann. „Wie wir jemanden anerkennen, stimmt vielleicht nicht damit überein, wie sich jemand selbst versteht. Möglicherweise fühlt er sich in dieser Form der Anerkennung gar nicht gesehen und verstanden“, sagt sie.

    Während also die Lehrerin eine Zweitklässlerin dafür lobt, dass sie immer so ruhig und besonnen ist, ist diese darüber gar nicht glücklich, weil sie doch eigentlich als mutig und abenteuerlustig gesehen werden will. Und ihre Banknachbarin würde liebend gerne ihren Ruf als „verträumter Schussel“ eintauschen gegen den einer kreativen Künstlerin. Und der Junge im Rollstuhl möchte nicht nur derjenige sein, auf den alle anderen Rücksicht nehmen müssen.

    Eine machtanalytische Perspektive

    Hannah Nitschmanns Studie fokussiert „aus einer machtanalytischen Perspektive die ambivalenten Effekte von Anerkennung als Subjektivierungsgeschehen im inklusionsorientierten Grundschulunterricht“, wie der Verlag schreibt Dabei fokussiert sie die Körperlichkeit der Anerkennung, also wie sich Anerkennungshandeln auf der Ebene von Körperhaltung, Bewegungen, Gestik, Mimik, Blickverhalten etc. vollzieht – eine Herangehensweise, bei der nach Ansicht der Wissenschaft noch Forschungsbedarf besteht.

    Nitschmann ist dabei auch der Frage nachgegangen, welche „Möglichkeiten der Selbstbezugnahme – respektive ‚Rekursivitätsspielräume‘ in Interaktionen eröffnet oder verschlossen werden“ oder – anders formuliert: Inwieweit bestimmte körperliche Ansprachen oder Reaktionen den Betroffenen trotzdem den Raum lassen, eine ihnen zugeschriebene Identität auszuhandeln oder zu verwerfen und sich als Anderer zu zeigen.

    Beobachtungen an Kölner Grundschulen

    Grundlage ihrer Untersuchung sind teilnehmende Beobachtungen an Kölner Grundschulen, die über mehrere Wochen hinweg erfolgt sind. Ein Forschungsteam hat dafür verschiedene Klassen in ihrem Unterrichtsalltag begleitet und zeitweise gefilmt. „In einem Klassenraum passiert unendlich viel. Als diese körperlichen Prozesse einzufangen und zu verschriftlichen, ist ungeheuer schwer“, sagt die Wissenschaftlerin.

    Die Kamera sei dabei eine wertvolle Unterstützung. Mit diesen Aufnahmen sei es ihr möglich gewesen, einzelne Momente wiederholt zu betrachten und detailliert zu beschreiben, was dort auf körperlicher Ebene zwischen den Schülerinnen und Schülern vor sich gegangen ist. Diese Daten habe sie anschließend aus einer anerkennungstheoretischen Perspektive analysiert.

    Wenn die Schwelle der Tolerierbarkeit überschritten wird

    Im Sitzkreis konnte Hannah Nitschmann diese Ereignisse besonders gut beobachten. „Dort ist die Dichte der körperlichen Interaktionen besonders hoch“, sagt sie. Gleichzeitig sei ein Sitzkreis ein besonderer, öffentlicher Raum, weil jeder jeden sehen kann, Interaktionen also schnell „öffentlich“ werden. Geschieht so etwas – eine Rempelei, ein Beiseiteschieben, ein Sich-Abwenden – werde regelmäßig eine „Schwelle der Tolerierbarkeit“ überschritten mit der Folge, dass die Lehrkraft einschreitet, kommentiert und bewertet. In diesen Fällen hat Nitschmann untersucht, wie sich Anerkennungsverhältnisse unter Schülerinnen und Schülern durch diese Bewertung verschieben.

    „Mich interessiert dabei aus einer anerkennungstheoretischen Perspektive die Frage nach den Antwortmöglichkeiten – nach Rekursivitätsspielräumen“, sagt sie. Der Theorie nach sei zu erwarten, dass eine Bewertung immer auch potenziell einschränkend wirke. „Das kennen wir alle: Wenn wir beschämt werden, verstummen wir“, erklärt die Wissenschaftlerin. Und je stärker man sich verletzt fühlt, desto geringer sei die Chance zu antworten, sich zu positionieren und zu verteidigen. „Wenn also öffentlich über ein Kind gesprochen wird, erhöht das dessen Beschämung“, sagt Nitschmann.

    Auch wohlmeinende Äußerungen können beschämen

    Die Feinanalysen in der Arbeit zeigen, dass dabei auch vermutlich wohlmeinende Verständnisbekundungen mitunter beschämend sein können und zugleich Scham auch sozial erwünschtes Verhalten hervorbringen kann. So werden die Ambivalenzen von Anerkennungsprozessen sichtbar. In solchen Situationen ließe sich gut beobachten, wie Körper verstummen oder „verschwinden“.

    „Die Möglichkeit der Kinder, auf solcherlei Bewertungen – auch körperlich – zu antworten, lässt sich als Anerkennung beschreiben“, sagt Hannah Nitschmann. Diese Spielräume seien stets auch in Abhängigkeit von Körpernormen beziehungsweise unterrichtlichen Erwartungen an die Körper der Schülerinnen und Schüler zu verstehen und scheinen im „inklusiven“ Unterricht ungleich verteilt. Der Grad der Verletztheit beeinflusst letztlich, so Nitschmann, die Chance, sich zu einer bestimmten Zuschreibung noch – auch körperlich – zu verhalten, diese in Frage zu stellen oder zu verwerfen.

    Zur Person

    Hannah Nitschmann (Jahrgang 1987) hat in Köln und Groningen Sonderpädagogik auf Lehramt studiert. Im Anschluss an das Referendariat arbeitete sie bis zum Abschluss ihrer Dissertation als Lehrkraft für besondere Aufgaben und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Heilpädagogik und Rehabilitation der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Seit Mai 2023 ist Hannah Nitschmann als Akademische Rätin am Institut für Sonderpädagogik der Universität Würzburg tätig.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Hannah Nitschmann, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Sonderpädagogik/ Körperbehindertenpädagogik, T: +49 931 31-87738, E-Mail: hannah.nitschmann@uni-wuerzburg.de


    Originalpublikation:

    Nitschmann, Hannah (2024): Inklusion und Anerkennung. Zur Körperlichkeit von Differenzaushandlungen im Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 216 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-7815-2650-1; 42,00 Euro. Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich: ISBN 978-3-7815-6105-2, 31,90 Euro.


    Bilder

    Dr. Hannah Nitschmann
    Dr. Hannah Nitschmann
    Lisa-Marie Rosenberger
    Universität Würzburg


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Dr. Hannah Nitschmann


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