Pharmaforschende finden neue Wirkstoffe oft nur durch das Durchmustern grosser Sammlungen von chemischen Verbindungen. Chemiker:innen der ETH Zürich haben nun ein bestimmtes Verfahren, wie diese Sammlungen erzeugt und durchsucht werden, entscheidend weiterentwickelt.
Spektakuläre neue Behandlungen wie die individuelle Krebstherapie mit modifizierten Immunzellen oder Antikörpern sind heute in aller Munde. Sie sind aber sehr aufwändig, teuer und werden daher eingeschränkt eingesetzt. Die Basis der allermeisten medizinischen Therapien bilden daher nach wie vor kleine chemische Verbindungen, die in grossen Mengen und damit kostengünstig hergestellt werden können.
Milliarden neuer Moleküle in wenigen Wochen
Der Flaschenhals bei der Entwicklung neuer molekularer Therapien ist die begrenzte Anzahl neuer Wirkstoffe, die mit den heutigen Methoden gefunden werden können. Eine in den 2000er-Jahren in Harvard und an der ETH Zürich entwickelte Methode zur Identifizierung neuer Wirkstoffe, die DNA-kodierten Substanz-Bibliotheken, englisch DNA-encoded chemical libraries (DEL), verspricht dabei Abhilfe.
Bisher war es möglich, mittels DEL-Technologie Millionen von chemischen Verbindungen zu erzeugen und auf einen Schlag auf ihre Wirksamkeit zu testen. Das hatte allerdings den Nachteil, dass die Forschenden nur kleine Moleküle aus wenigen chemischen Bausteinen bauen konnten. Jetzt haben Chemiker:innen der ETH Zürich dieses Verfahren weiterentwickelt und entscheidend verbessert.
Mit einer neuen Methode, die kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde, können Forschende nun nicht mehr nur einige Millionen, sondern Milliarden von verschiedenen Substanzen innerhalb weniger Wochen automatisiert herstellen und testen. Diese Methode ermöglicht es auch, grössere Wirkstoffmoleküle wie zyklische Peptide zu erzeugen. Dadurch lassen sich zusätzliche pharmakologische Ziele ins Visier nehmen.
Alle Kombinationen herstellen und testen
«Derzeit befinden sich bereits die ersten Wirkstoffe, die mit Hilfe der frühen DEL-Technologie entwickelt wurden, in fortgeschrittenen klinischen Studien. Die neue DEL-Methode erweitert die Möglichkeiten noch einmal massiv», erklärt Jörg Scheuermann. Er gehört mit seiner Forschungsgruppe am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften zu den Pionieren der DEL-Technologie. Sie gilt als Schlüssel, um die kombinatorischen Möglichkeiten bei der chemischen Herstellung von Molekülen praktisch nutzen zu können.
Ziel der kombinatorischen Chemie ist es, aus einzelnen Bausteinen möglichst viele Molekülvarianten herzustellen. Aus all diesen Kombinationen fischen die Forscherinnen und Forscher schliesslich diejenigen heraus, die die gewünschte Aktivität zeigen. Die Zahl der unterschiedlichen Moleküle wächst dabei exponentiell mit der Zahl der Synthesezyklen und mit der Zahl der unterschiedlichen Bausteine, die in jedem Synthesezyklus kombiniert werden.
Mit DNA-Code die wirksamen Moleküle identifizieren
Um in Wirkungstests die einzelnen aktiven Verbindungen in der schnell wachsenden «Molekülsuppe» identifizieren zu können, wird bei der DEL-Methode parallel zu jedem Wirkstoff-Baustein auch ein definiertes Stück DNA an das Molekül angehängt. So entsteht für jede Bausteinkombination eine eindeutige DNA-Sequenz als Barcode, der abgelesen werden kann.
So kann die gesamte Molekülsuppe zum Beispiel auf ihre Bindungsfähigkeit an ein bestimmtes Protein getestet werden, und mit der aus den Covid-Tests bekannten PCR-Technik (Polymerase-Kettenreaktion) lassen sich dann selbst einzelne DNA-Abschnitte vervielfältigen und eindeutig identifizieren.
Exponentiell wachsende Kontaminationen verhindern
Die chemische Realität schränkte die Möglichkeiten der DEL-Technologie bisher jedoch stark ein. Die Verknüpfung der DNA-Stücke mit den chemischen Bausteinen funktioniert zwar immer gleich zuverlässig, doch die chemische Verknüpfung der Bausteine gelingt je nach Kombination unterschiedlich gut. Dadurch verliert der DNA-Code seine Eindeutigkeit.
Derselbe Code kann sowohl das vollständige Molekül mit allen Bausteinen als auch verkürzte Varianten mit nur einem Teil der Bausteine kodieren. Auch diese Verunreinigungen nehmen mit jeder Syntheserunde exponentiell zu. In der Praxis hat dies die handhabbare Grösse von DEL-Bibliotheken auf Kombinationen von drei bis vier aneinander gehängten Bausteinen und somit auf einige Millionen verschiedener Verbindungen beschränkt.
Selbstreinigung eingebaut
Die Forschenden um Scheuermann haben nun einen Weg gefunden, die zunehmende Verschmutzung der Molekülbibliothek zu verhindern und die bis zum allerletzten Baustein synthetisierte DEL quasi selbst zu reinigen. Die Methode der ETH-Forschenden basiert auf zwei Hauptkomponenten: Zum einen wird die Synthese der Moleküle an magnetische Partikel gekoppelt, die einfach und automatisiert gehandhabt werden können. Dies ermöglicht unter anderem Waschzyklen. Zum anderen haben sie eine zweite chemische Kopplungskomponente auf den Partikeln eingeführt, die nur an den letzten der geplanten Bausteine binden kann.
Alle verkürzten Moleküle, denen etwa der letzte Baustein fehlt, können so in einem Waschschritt entfernt werden. Am Ende enthält die Bibliothek nur noch Moleküle, die auch alle im DNA-Code angegebenen Bausteine enthalten.
Konflikt mit der Verbindungschemie
So elegant die Methode auf dem Papier aussieht, so schwierig war sie umzusetzen, wie Scheuermann betont: «Besonders anspruchsvoll war es, magnetische Partikel zu finden, die die enzymatische Kopplung von DNA-Stücken nicht stören. Michelle Keller und Dimitar Petrov aus meiner Gruppe haben während ihrer Doktorarbeit viel Arbeit investiert, bis die Methode zuverlässig funktionierte».
Die Idee, derartige kombinatorische Chemie an Partikeln zu betreiben, kam bereits in den 1990er Jahren auf. Die praktische Umsetzung zur DEL-Synthese gelang den ETH-Forschenden aber erst jetzt.
Vielfältigere und grössere Moleküle
Mit der selbstreinigenden DEL-Technologie lassen sich nicht nur wesentlich grössere Bibliotheken von mehreren Milliarden Molekülen handhaben. Es können nun auch Moleküle synthetisiert werden, die aus fünf oder mehr Bausteinen bestehen und damit grösser sind. «Wir können jetzt nicht nur nach kleinen Wirkstoffen suchen, die wie ein Schlüssel ins Schloss der aktiven Stelle von therapeutisch relevanten Proteinen passen, sondern auch nach grösseren. Diese grösseren Wirkstoffe können nicht nur in aktive Zentren des Proteins, sondern auch an einer anderen bestimmten Oberfläche eines Proteins andocken und so zum Beispiel verhindern, dass es an einen Rezeptor bindet», erklärt Scheuermann.
Die Möglichkeit, Moleküle zu finden, die an bestimmte Oberflächen von Proteinen binden, ist auch für die biologische Grundlagenforschung sehr nützlich. Forschende können Proteine so direkt in Zellen markieren und untersuchen. Die Methode der ETH könnte vor allem grosse internationale Forschungsprojekte wie «Target 2035» unterstützen. Dieses Projekt hat das Ziel, bis 2035 für jedes der rund 20’000 menschlichen Proteine ein Molekül zu finden, das spezifisch an das Protein bindet und seine Funktion beeinflussen kann.
Spin-off-Dienstleistung für Industrie und Wissenschaft
Um die Technologie der Pharmaindustrie und der Grundlagenforschung möglichst effizient zur Verfügung zu stellen, werden Scheuermann und sein Team ein Spin-off-Unternehmen gründen. Dieses wird den gesamten Prozess von der Entwicklung von DEL-Sammlungen durch die automatisierte Synthese bis hin zu ebenfalls automatisierten Wirkungstests und DNA-basierten Identifizierung der Moleküle anbieten. «Das Interesse aus Industrie und Forschung, besonders auch an den bislang nicht in grosser Zahl zugänglichen zyklischen Molekülen, ist immens», sagt Scheuermann.
Jörg Scheuermann
joerg.scheuermann@pharma.ethz.ch
Keller M, Petrov D, Gloger A, Dietschi B, Jobin K, Gradinger T, Martinelli A, Plais L, Onda Y, Neri D, & Scheuermann J (2024). Highly pure DNA-encoded chemical libraries by dual-linker solid-phase synthesis. Science, 384(6701), 1259–1265. DOI: 10.1126/science.adn3412
https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2024/09/neue-pharmazeu...
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Chemie
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