Tragbare Neurotechnologie und multimodales maschinelles Lernen analysieren die Gehirnfunktion im Alltag
Die Gehirnaktivität von Menschen in ihrer Alltagsumgebung zu vermessen und zu analysieren, das ist das Ziel der Forschungsgruppe von Dr. Alexander von Lühmann am Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD) an der Technischen Universität Berlin (TU Berlin). Für dieses hochkomplexe Forschungsprojekt erhielt der Wissenschaftler jetzt einen ERC Starting Grant in Höhe von 1,65 Millionen Euro. „Die Messung und Verknüpfung von Gehirnaktivität mit menschlicher Physiologie und im Kontext von Alltagssituationen verspricht tiefgreifende neue Einblicke in die Gehirnfunktion und -gesundheit. Ich freue mich riesig, dass wir dieses spannende Projekt jetzt angehen können“, so von Lühmann.
Von der Messung der Gehirnaktivität in einer konventionellen Laborumgebung bis hin zu der Messung dieser Aktivität in komplexen natürlichen Umgebungen ist es allerdings noch ein weiter Weg. „Der Wandel hin zu einer validen Darstellung und Analyse der menschlichen Gehirnfunktion im normalen Leben wird ganz neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Durchbrüche in unserem Verständnis von neuronaler Entwicklung, Gesundheit und Altern liefern und die Translation in Medizin und Psychiatrie vorantreiben“, ist von Lühmann überzeugt. Im Jahr 2022 kam der 36-jährige Wissenschaftler nach seiner Forschung in Boston und einer Rolle als Direktor der Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Berliner Medizintechnikunternehmens zurück an die TU Berlin und gründete am BIFOLD das IBS-Lab (Intelligent Biomedical Sensing). Er erwarb seinen Master in Elektrotechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und promovierte 2018 mit Auszeichnung an der TU Berlin bei BIFOLD Co-Direktor Prof. Dr. Klaus-Robert Müller. Schon im Rahmen seiner Dissertation beschäftigte er sich mit der Verbindung zwischen funktionaler Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS) und Elektroenzephalographie (EEG) verbunden mit auf maschinellem Lernen basierenden multimodalen Analyseansätzen.
Das Fehlen geeigneter mobiler Neurotechnologie stellt bislang ein erhebliches Hindernis bei der Überwachung der Gehirnaktivität im Alltag dar. „Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) hat unser Verständnis von Gehirnfunktionen und -netzwerken erheblich vorangebracht, ist jedoch auf Momentaufnahmen in nicht allzu natürlichen Laborsituationen beschränkt. Aber: Wir müssen das Gehirn in seiner natürlichen Umgebung besser verstehen. Elektroenzephalographie (EEG) ist zwar mobil, kann jedoch nicht direkt mit den durch fMRT erfassten Gehirnnetzwerken verknüpft werden“, erläutert von Lühmann den Status Quo.
„Unser Ziel ist es, innovative, kleine, mobile und tragbare Neurotechnologie zu entwickeln, die in der Lage ist, kontinuierlich spezifische Gehirn-Netzwerkaktivitäten des Menschen in seiner natürlichen Umgebung zu messen. Dabei setzen von Lühmann und sein Team auf sogenannte hochdichte diffuse optische Tomographie (HD-DOT), basierend auf Nahinfrarotlicht, als geeignete Alternative zu fMRT. Sie entwickeln ein einzigartiges System-Engineering-Konzept, welches DOT, EEG und physiologische Sensoren miniaturisiert und mit multimodalem maschinellem Lernen integriert. Maschinelles Lernen soll hier dabei helfen, den räumlich-zeitlichen Kontrast in der mobilen Hirnbildgebung trotz schwierigen Umgebungsbedingungen zu verbessern.
Ihr Konzept sieht dabei vier Phasen vor: In der ersten Phase entwickeln sie die benötigte Hardware für die unaufdringliche und kontinuierlich tragbare Gehirn-Körper-Bildgebung mit HD-DOT-EEG. In der zweiten, experimentellen Phase planen sie mit Hilfe dieser neuen Technik umfangreiche multimodale Daten zu sammeln: Es sollen Gehirnnetzwerke gemessen und reproduziert werden, während die Komplexität von Umwelt- und physiologischen Artefakten kontrolliert erhöht wird. Phase drei ist der Analyse gewidmet. Multimodale Sensorfusion und maschinelles Lernen sollen die robuste Analyse der Gehirnnetzwerkaktivität in komplexen Alltagsumgebungen ermöglichen. In Phase 4 werden diese neuen Technologien in einem Experiment zur Hirnbildgebung im realen Alltag validiert.
„Ich bin überzeugt davon, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, das transformative Potenzial von tragbarem multimodalem DOT kombiniert mit multimodalen ML-basierten datengetriebenen Signalverarbeitungsmethoden zu bündeln. Wenn uns das gelingt, kann diese neue Plattform beispiellose Auswirkungen auf Neurotechnologie-Anwendungen und die Forschung haben, von der Neurowissenschaft der Alltagswelt bis hin zu neuen Formen von digitaler Gesundheit“, sagt von Lühmann.
Der ERC Starting Grant
Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat am 5. September 2024 die Vergabe von insgesamt 494 Starting Grants an junge Wissenschaftler*innen in ganz Europa bekannt gegeben. Die Förderung – insgesamt fast 780 Millionen Euro – unterstützt Spitzenforschung in einer Vielzahl von Bereichen, von den Lebenswissenschaften und der Physik bis hin zu den Sozial- und Geisteswissenschaften. Sie soll Forscher*innen am Beginn ihrer Karriere helfen, eigene Projekte zu starten, Teams zu bilden und ihre vielversprechendsten Ideen zu verfolgen. Der ERC erhielt insgesamt 3.474 Anträge, die von Peer-Review-Panels international renommierter Forscher*innen bewertet wurden. Insgesamt wurden nur 14,2 Prozent der Anträge für eine Förderung ausgewählt.
Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Dr. Alexander von Lühmann
TU Berlin/BIFOLD
Intelligent Biomedical Sensing (IBS) Lab
E-Mail: vonluehmann@tu-berlin.de
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