idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
18.09.2024 14:30

Neurowissenschaft: Wenn Serotonin das Licht dimmt

Meike Drießen Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    In unserem Gehirn werden Signale nicht immer auf dieselbe Weise verarbeitet: Bestimmte Rezeptoren modulieren diese Verarbeitungsprozesse. Sie beeinflussen so unsere Stimmung, Wahrnehmung und unser Verhalten auf vielfältige Weise. Zu dieser Gruppe gehört auch der 5-HT2A-Rezeptor, der eine Besonderheit hat: Er dämpft eintreffende visuelle Informationen, sodass unser Gehirn mehr Raum für interne Prozesse und Interpretationen hat. Diese Erkenntnis eines Forschungsteams der Ruhr-Universität Bochum könnte auch die Wirkung von Drogen wie LSD erklären: Wird der Rezeptor dadurch überaktiviert, werden externe Sinneseindrücke unterdrückt und vermehrt eigene Bilder erzeugt.

    „Ein wenig so, als würde unser Gehirn mit sich selbst reden“, erklärt Prof. Dr. Dirk Jancke. Die Ergebnisse, die in der Zeitschrift Nature Communications vom 14. September 2024 veröffentlicht sind, liefern neue Einsichten für unser Verständnis von Wahrnehmung und psychischen Erkrankungen.

    Im Dschungel der Serotonin-Rezeptoren

    Rezeptoren vermitteln die Übertragung von Information zwischen Nervenzellen. So bewirkt die Ausschüttung des Botenstoffs Serotonin über zahlreiche Rezeptortypen eine Veränderung von Nervenzellaktivitäten im gesamten Gehirn. Mindestens 14 Rezeptortypen können unterschieden werden. „Die Sache ist besonders knifflig, weil die Rezeptoren selbst sowohl hemmend als auch aktivierend sein können“, so Dirk Jancke. „Zusätzlich werden sie auch noch in verschiedenen Zelltypen ausgeschüttet, die wiederum wechselseitig hemmenden oder erregenden Einfluss auf das gesamte Netzwerk haben.“
    Mit Licht gegen die Dunkelheit im Gehirn

    Die Untersuchung der Wirkung von Rezeptoren im Gehirn ist daher keine einfache Aufgabe. Herkömmliche pharmakologische Methoden zur Aufklärung neuronaler Netzwerkfunktion von Rezeptoren sind begrenzt. Sie sind meist nicht spezifisch genug und vor allem schlecht zu timen. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Stefan Herlitze hat daher alternative Untersuchungsmethoden entwickelt. Dabei werden Lichtrezeptor-Proteine mithilfe von Viren in Nervenzellen eingebracht. Die Lichtrezeptor-Proteine sind gentechnisch so modifiziert, dass sie Funktionen eines ausgewählten Rezeptortyps imitieren können. Der ausgewählte Rezeptortyp wird damit wie über einen Lichtschalter an- und abschaltbar, präzise innerhalb weniger Millisekunden. Mäusen werden dazu hauchdünne Lichtleiter implantiert, die – über LEDs gesteuert – Licht der gewünschten Wellenlänge an die entsprechende Stelle im Gehirn bringen und dort den Rezeptor aktivieren.

    5-HT2A Rezeptoren regulieren die Empfindsamkeit für sensorische Eingänge

    Die Forschenden fanden auf diese Weise heraus, dass der 5-HT2A Rezeptor selektiv die Stärke eintreffender Sehinformation unterdrückt. „Erstaunlicherweise geschieht dies, ohne andere, parallel ablaufende Prozesse zu hemmen“, berichtet Dr. Ruxandra Barzan, Erstautorin der Studie. Das Gehirn reduziert somit die Bedeutung aktueller sensorischer Eingänge zugunsten interner Kommunikation und Interpretationsprozesse. „Das heißt, wir haben einen Mechanismus entdeckt, der reguliert, wie wichtig eingehende Informationen genommen werden“, sagt Ruxandra Barzan.
    Halluzinationen verstehen, Therapieansätze entwickeln

    Halluzinationen, die durch Drogen wie LSD ausgelöst werden, könne man daher als eine Art Selbstgespräch interpretieren, so Dirk Jancke. „Durch die Überaktivierung unterdrückt der 5-HT2A-Rezeptor von außen kommende Sinneseindrücke, und das Gehirn ersetzt sie durch eigene Produktionen.“ Im gesunden Gehirn aktiviert Serotonin verschiedene Rezeptortypen gleichzeitig, was gewährleistet, dass Informationsflüsse in ihrer Gewichtung ausbalanciert sind. Bei psychischen Erkrankungen kann diese Balance gestört sein. Die Erkenntnisse aus der Studie könnten dazu beitragen, neue Therapien zu entwickeln, bei denen gezielt ausgewählte Rezeptoren aktiviert werden, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, hoffen die Forschenden. Psychedelische Drogen, die beispielsweise selektiv den 5-HT2A Rezeptor ansprechen, könnten unter fachärztlicher Aufsicht in geringer Dosierung und in definierten Lernkontexten zu Therapiezwecken genutzt werden, um Disbalancen in der Rezeptoraktivierung langfristig wieder auszugleichen.
    Künstliche Intelligenz trifft auf Neurobiologie

    Um die komplexen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zelltypen und den Rezeptoren im Gehirn besser zu verstehen, setzten die Forschenden Computermodelle ein, die wesentliche Merkmale neuronaler Schaltkreise vereinfacht darstellen. Die Forschenden prüften die Hypothese, dass der Rezeptor die gefundenen Effekte nur dann entfaltet, wenn er gleichzeitig in hemmenden und aktivierenden Nervenzellen aktiviert wird. Diese Hypothese konnte durch die Modelle gestützt werden. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Sen Cheng fand in ihren Simulationen heraus, dass nur die gleichzeitige Rezeptoraktivierung in hemmenden und erregenden Zellen zu Interaktionen im Netzwerk führen, die die experimentellen Befunde abbilden.

    Kooperationspartner

    Die Studie wurde gemeinsam von den Gruppen von Dirk Jancke, Sen Cheng, Prof. Dr. Melanie Mark und Stefan Herlitze im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 874 und des Graduiertenkollegs „MoNN&Di“ (Monoaminergic Neuronal Networks and Disease) erarbeitet. Maßgeblich beteiligt war die Erstautorin und Doktorandin der International Graduate School for Neuroscience Ruxandra Barzan unter der Leitung von Dirk Jancke.

    Förderung

    Die zugrundeliegenden Studien wurden durch Mittel des Sonderforschungsbereiches (SFB) 874 „Integration und Repräsentation sensorischer Prozesse“ und des Graduiertenkollegs „MoNN&Di“ unterstützt, sowie über weitere Einzelprojekt-Förderungen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und des Bundesministeriums für Forschung und Bildung (BMBF) im Rahmen des EU-Projekts „I-See2“, ERA-Net Neuron “Horizon 2020”.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Dirk Jancke
    Optical Imaging Lab
    Fakultät für Informatik
    Institut für Neuroinformatik
    Ruhr-Universität Bochum
    Tel: +49 234 32 27845
    E-Mail: dirk.jancke@ruhr-uni-bochum.de
    Homepage der Arbeitsgruppe: https://jancke-lab.de/


    Originalpublikation:

    Ruxandra Barzan et al.: Gain Control of Sensory Input Across Polysynaptic Circuitries in Mouse Visual Cortex by a Single G Protein-Coupled Receptor Type (5-HT2A), in: Nature Communications, 2024, DOI: 10.1038/s41467-024-51861-1, https://www.nature.com/articles/s41467-024-51861-1


    Bilder

    Dirk Jancke (links) und Ruxandra Barzan vom Bochumer Forschungsteam
    Dirk Jancke (links) und Ruxandra Barzan vom Bochumer Forschungsteam

    © RUB, Kramer


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Dirk Jancke (links) und Ruxandra Barzan vom Bochumer Forschungsteam


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).