Der Untergang des Fährschiffs „Estonia“ in der Nacht zum 28. September 1994 in der stürmischen Ostsee zählt zu den schwersten Seekatastrophen der Geschichte. Eine Organisationsstudie an der Hamburger Northern Business School geht dem Aufklärungs- und Verschwörungskomplex des Unglücks auf den Grund.
Der Untergang des Fährschiffs „Estonia“ in der Nacht zum 28. September 1994 in der Ostsee, damals der Stolz der jungen postsowjetischen Republik Estland, zählt zu den schwersten Seekatastrophen der Geschichte. 137 Menschen überlebten. Doch mit 852 Toten ist es das verlustreichste Schiffsunglück Europas in Friedenszeiten nach jenem der „Titanic“ im Jahr 1912. Drei Länder mit ihren Regierungen würden ganze 30 Jahre in die Aufklärung dieser markanten Seekatastrophe involviert sein: Estland, Finnland und Schweden, die hinsichtlich der Schiffszulassung, des Schiffsbetriebs und dessen Beaufsichtigung verschiedene Zuständigkeiten innehatten.
Prof. Dr. Marcel Schütz, Professor für Organisation und Management an der Northern Business School in Hamburg, hat sich im Rahmen einer Organisationsstudie mit dem Komplex der offiziellen Ermittlungen und der Verschwörungsgeschichte rund um das Unglück befasst. Jahrzehntelang wurden die Untersuchungen von zahlreichen alternativen Spekulationen begleitet. Professor Schütz: „Das Schiff sank, weil Bugvisier und Fahrzeugrampe in der stürmischen Ostsee unter starker Wellenlast abbrachen und das nun offene Fahrzeugdeck in kurzer Zeit geflutet wurde. Das Visier für die Zufahrt der Fahrzeuge war unzureichend gewartet worden und mit der Zeit in schlechtem Zustand.“
In seiner Arbeitet beleuchtet Schütz die Vor- und Nachgeschichte sowie die organisatorischen und technischen Fehler bzw. Irrtümer, die mit dem Untergang und seiner Aufklärung in Verbindung stehen. Schütz erklärt: „Die Schiffszulassung war nicht ganz durchsichtig und auch widersprüchlich. Die Estonia war gar nicht fürs offene Meer tauglich. Ursprünglich verkehrte sie zwischen Schweden und Finnland als küsten- und inselnahe Fähre. Daher wurde beim Bau auf die Installation eines zusätzlichen Sicherheitsschotts hinter Bugvisier und Rampe verzichtet. Dieses war nach internationalen Seeregeln bei Meeresüberfahrten erforderlich. Für den landnahen Betrieb galt aber eine Ausnahme davon. Und diese Einschränkung verlor man aus den Augen.“ Ihre letzte Route führte die Estonia zwischen Tallinn und Stockholm über die offene Ostsee. Sie sank auf etwa halber Strecke. Den hohen Belastungen durch Sturm und See konnte die allmählich lädierte Bugklappe nicht mehr standhalten.
Die erste Untersuchungskommission gelangte zu der Einschätzung, dass das Bugvisier der Estonia für die Wellenkraft des offenen Meeres nicht genügend ausgelegt war. Bei späteren experimentellen Tests brach die Verriegelung des verunglückten Visiertyps unter entsprechend simulierter Wellenlast tatsächlich. Einer ungenügenden Konstruktion widersprach die Meyer-Werft, die die Estonia 1980 gebaut hatte. Heute nimmt man an, dass das Wissen über die Belastbarkeit des Visiers zum Zeitpunkt der Konstruktion nicht auf dem Stand war, über den man später verfügte. „Die Estonia ging als Küstenfähre in Betrieb, aber als Meeresfähre unter“, folgert Schütz. Bis heute gab und gibt es immer wieder neue Untersuchungen – bis heute ohne Änderung des ursprünglichen Befunds.
Der Organisationswissenschaftler hat sich insbesondere mit der Frage beschäftigt, warum die Aufklärung der Katastrophe bis in die Gegenwart zu viel Unruhe und Spekulation führte. „Anfangs wollte man Schiff und Leichen bergen, was den Angehörigen versprochen wurde. Aber bald änderte die schwedische Regierung ihre Meinung. Ein eingesetzter Ethikrat hatte sich dagegen ausgesprochen, da man Zweifel an der Umsetzung bekam. Das sorgte für viel Ärger, gerade in Schweden, das die meisten Opfer zu beklagen hatte“, so Schütz. Die schwedische Regierung entschied, das Schiff mit Gestein zuzuschütten, brach die Maßnahme nach Protesten aber wieder ab. Dann wollte man die Estonia mit einem Sarkophag umhüllen, was wiederum für Protest sorgte und ebenfalls verworfen wurde. Schließlich wurde die Estonia zum Seegrab erklärt. Anfahrt und Tauchgang stehen gemäß Abkommen der beteiligten nordischen Länder seither unter Strafe. Noch immer wird das Wrack von Eisbrechern und Küstenwache bewacht.
Für Schütz ist diese Konstellation im Hinblick auf Verschwörungsverdacht „nahezu idealtypisch“. Der Forscher rekonstruierte in seiner Analyse, wie die Reihe problematischer Entscheidungen und eine mäandernde Regierungskommunikation nach dem Untergang den Verdacht aufkommen ließen, dass vermeintlich wahre Ursachen des Unglücks – etwa Waffentransporte, Explosionen oder Terror – vertuscht würden. Die analytische Rekonstruktion verdeutlicht, wie die staatlichen Aktivitäten diesen Verdacht noch verstärkten, was letztlich zur Entstehung eines regelrechten „Estonia-Mythos“ führen sollte.
Professor Schütz hatte bereits Organisationsstudien zur Vorgeschichte des ICE-Unglücks von Eschede sowie zum Absturz einer Swissair-Maschine bei Halifax – beide Unglücke ereigneten sich 1998 – durchgeführt. Die vollständige Arbeit über den Estonia-Komplex wurde vom renommierten Fachjournal „Soziale Systeme“ angenommen und wird in Kürze erscheinen.
Für Presseanfragen steht Ihnen Prof. Dr. Marcel Schütz als Ansprechpartner zur Verfügung. E-Mail: schuetz@nbs.de
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Reminiszenz an den einstigen Stolz einer jungen Republik: Ein Modell der Estonia, die 2.000 Passagie ...
Stan Shebs
Lizenz CC BY-SA 3.0
Prof. Dr. Marcel Schütz (39) hat Organisationskatastrophen der vergangenenen Jahrzehnte untersucht. ...
NBS/Privat
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Verkehr / Transport
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
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