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15.10.2024 14:13

Herausragende Arbeiten zu herausforderndem Verhalten

Kirstin Linkamp Stabsstelle Kommunikation
Universitätsklinikum Würzburg

    Erster Preis der Steinhausen-Stiftung geht an Dr. Julia Geissler

    Die Diplom-Psychologin Dr. Julia Geissler von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKW erhielt auf dem XXXVIII. DGKJP-Kongress in Rostock den mit 10.000 Euro dotierten ersten Preis der Steinhausen-Stiftung für ihre Projekte REDUGIA und ProVIA, in denen junge Menschen mit einer Entwicklungsstörung der Intelligenz und Autismus-Spektrum-Störungen im Mittelpunkt stehen.

    Würzburg. Auf dem diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) wurde erstmals der Steinhausen-Stiftungspreis verliehen. Der von Helene und Prof. Hans-Christoph Steinhausen gestiftete Preis zeichnet Forschende, Einrichtungen und Institutionen für bemerkenswerte wissenschaftliche Leistungen oder praktische Aktivitäten und Projekte aus, die in besonderer Weise geeignet sind, die Lebensqualität von Menschen mit einer Entwicklungsstörung der Intelligenz zu verbessern.

    Als erste Preisträgerin dieser Auszeichnung wurde Dr. Julia Geissler, Diplom-Psychologin der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Würzburg (UKW) und approbierte Psychologische Psychotherapeutin, für ihre herausragenden Projekte REDUGIA und ProVIA geehrt. REDUGIA steht für „Reduktion von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung: Grundlagen einer interdisziplinären Allianz“; ProVIA für „Problemverhalten verstehen und vorbeugen bei Intellektueller Entwicklungsstörung und Autismus-Spektrum-Störungen“.

    „Herausforderndes Verhalten ist ein dramatisches Hindernis für die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft“

    „Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen oder Entwicklungsstörungen der Intelligenz sind eine vulnerable Gruppe, die oft Schwierigkeiten hat, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu kommunizieren, und die meist nicht in der Lage ist, um Hilfe zu bitten“, weiß Julia Geißler. „Sie zeigen herausforderndes Verhalten, weil sie sich im Moment nicht helfen können. Sie sind zum Beispiel aggressiv, verletzen sich selbst oder zeigen eine starke Verweigerungshaltung. Dies stellt für die Betroffenen eine erhebliche Erschwernis in Bezug auf Lernen, Selbstständigkeit, Sozialisation und Wahrnehmung in der Öffentlichkeit dar und kann so zusätzlich zu den Hürden, mit denen diese Gruppe aufgrund ihrer Erkrankungen ohnehin konfrontiert ist, ein dramatisches Hindernis für die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft darstellen. Aus diesem Grund ist die Verhaltensprävention, unter anderem durch eine gute Schulung der Betreuungspersonen in der Erkennung der Ursachen, von zentraler Bedeutung“.

    Freiheitsentziehende Maßnahmen in Extremfällen

    Herausforderndes Verhalten stellt aber auch eine große Belastung für die Betreuungspersonen dar. Im Extremfall kann es sogar freiheitsentziehende Maßnahmen auslösen, die in erster Linie dem Schutz des Kindes oder seiner Umgebung dienen. Wann und unter welchen Voraussetzungen freiheitsentziehende Maßnahmen zulässig sind, regelt § 1631b BGB. Das Gesetz wurde durch eine Novellierung im Jahr 2017 dahingehend verschärft, dass solche Einschränkungen nur in Ausnahmesituationen und unter strengen Voraussetzungen erfolgen dürfen.

    Hoher Versorgungsbedarf versus Ressourcenknappheit im Gesundheitssystem

    REDUGIA ist die erste Studie, die systematisch den Status quo der Häufigkeit von herausforderndem Verhalten, freiheitsentziehenden Maßnahmen und der Belastung des Personals in stationären Einrichtungen für junge Menschen mit Entwicklungsstörungen der Intelligenz in einem deutschen Bundesland erfasst. In Bayern leben ca. 10 Prozent aller jungen Menschen mit Intelligenzminderung in stationären Wohneinrichtungen. Die repräsentative Befragung bayerischer Heime zeigte, dass herausforderndes Verhalten und freiheitsentziehende Maßnahmen kein flächendeckendes Phänomen sind, sondern sich auf wenige spezialisierte Einrichtungen konzentrieren, in denen die Kinder mit dem höchsten Bedarf und den gravierendsten Verhaltensproblemen betreut werden. Die Studie ergab, dass freiheitsentziehende Maßnahmen nicht häufig angewendet werden und dass die Einrichtungen bereits vor der Gesetzesänderung verantwortungsvoll damit umgegangen sind. Der 2016 in Presseberichten erhobene Vorwurf weitreichender unzulässiger freiheitsentziehender Maßnahmen konnte nicht bestätigt werden.
    „Aber es gibt einen Zusammenhang zwischen herausforderndem Verhalten und der Belastung des Personals, was zeigt, wie hoch der Betreuungsbedarf ist und wie wichtig Präventionsmaßnahmen sind, um solche Situationen zu vermeiden“, sagt Julia Geissler. Sie empfiehlt, den Pflegenden mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Ursachen des Verhaltens anzugehen.

    ProVIA-App unterstützt bei der Prävention von herausforderndem Verhalten, indem sie individuelle Gründe für das Verhalten der Kinder findet und passgenaue Handlungsempfehlungen gibt

    Um dem Mangel an Beratungs- und Therapieangeboten bei herausforderndem Verhalten zu begegnen, wurde im Projekt ProVIA die Smartphone-App ProVIA-Kids entwickelt. In der App wurde erstmals das Prinzip der Verhaltensanalyse, das auch in der Psychotherapie zur Erforschung der Ursachen von Verhalten eingesetzt wird, in ein digitales Format übersetzt. Betreuungspersonen von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen oder Entwicklungsstörungen der Intelligenz erhalten so niedrigschwellig und kostenfrei Unterstützung im Alltag, ohne auf die personellen Kapazitäten anderer Stellen angewiesen zu sein. Die App bündelt Informationen und bereitet sie so auf, dass Betreuungspersonen Muster im Verhalten des Kindes leichter erkennen und die wichtigsten Probleme des Kindes effektiv angehen können. Darüber hinaus leitet die App die Betreuungspersonen zur Selbstfürsorge und zum Aufbau von Ressourcen an. Ziel von ProVIA ist die Prävention von herausforderndem Verhalten und in der Folge auch von freiheitsentziehenden Maßnahmen. „Natürlich erhebt die ProVIA-Kids-App nicht den Anspruch, eine therapeutische Behandlung zu ersetzen, aber sie kann helfen, Wartezeiten auf Therapieplätze zu überbrücken, Therapieinhalte zu ergänzen und leistet insgesamt einen wertvollen Beitrag zur Entlastung dieser Familien“, sagt Julia Geissler.

    Pilotstudie verdeutlicht das Potenzial digitaler Interventionen zur Unterstützung dieser speziellen Gruppe

    Eine Pilotstudie mit 23 Familien zeigte eine hohe Akzeptanz und eine sehr positive Bewertung der Lerninhalte. „Erste Verbesserungen in Bezug auf elterliche Belastung, kindliches Problemverhalten und Erziehungskompetenz deuten auf eine gute Eignung dieser niedrigschwelligen digitalen Intervention für die Zielgruppe hin, die perspektivisch in einer randomisiert-kontrollierten Studie auf ihre Wirksamkeit in Bezug auf die Prävention von herausforderndem Verhalten und die Belastung der Betreuungspersonen untersucht werden soll“, fasst Julia Geissler die Ergebnisse der Pilotstudie zusammen, die in der Fachzeitschrift Frontiers in Digital Health veröffentlicht wurden.

    Aktuell wird die App im Folgeprojekt ProVIA-Teams auf Basis des Feedbacks der Pilotnutzer weiterentwickelt und um die Möglichkeit erweitert, die eingegebenen Daten datenschutzkonform mit anderen ausgewählten Betreuungspersonen zu teilen. Ab Winter 2024 haben Einrichtungen, die Kinder mit Autismus oder Intelligenzminderung betreuen, die Möglichkeit, die App zu testen. Darüber hinaus soll in Zusammenarbeit mit Betroffenenorganisationen und Familien eine begleitende App für die Nutzung durch Kinder mit Entwicklungsstörungen der Intelligenz oder Autismus-Spektrum-Störungen selbst entwickelt werden, die den Kindern hilft, ihr eigenes Verhalten besser zu verstehen und neue Fähigkeiten zu erlernen, zum Beispiel Frühwarnzeichen von Anspannung zu erkennen und Strategien, diese Anspannung zu regulieren.

    Kooperationen und Förderung

    Kooperationspartner sind Prof. Dr. Christoph Ratz vom Lehrstuhl für Sonderpädagogik IV – Pädagogik bei Geistiger Behinderung (Universität Würzburg) und der Medizininformatiker Prof. Dr. Rüdiger Pryss vom Institut für Medizinische Datenwissenschaften (Universität Würzburg). Finanziell unterstützt werden die Projekte einschließlich des Folgeprojekts ProVIA-Teams durch das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS).


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Julia Geissler, Diplom-Psychologin der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Würzburg (UKW)
    geissler_j@ukw.de


    Originalpublikation:

    Rinat Meerson, Hanna Buchholz, Klaus Kammerer, Manuel Göster, Johannes Schobel, Christoph Ratz, Rüdiger Pryss R, Regina Taurines, Marcel Romanos, Matthias Gamer, Julia Geissler. ProVIA-Kids - outcomes of an uncontrolled study on smartphone-based behaviour analysis for challenging behaviour in children with intellectual and developmental disabilities or autism spectrum disorder. Front Digit Health. 2024 Sep 13;6:1462682. doi: 10.3389/fdgth.2024.1462682. PMID: 39351075; PMCID: PMC11440517.


    Bilder

    Dr. Julia Geissler von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKW erhielt beim DGKJP-Kongress in Rostock den mit 10.000 Euro dotierten Preis der Steinhausen-Stiftung; links Prof. Dr. Tobias Renner, Mitte Prof. Dr. Dr. Hans-Christoph Steinhausen
    Dr. Julia Geissler von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKW erhielt beim DGKJP-Kongress in Rost ...
    Regina Taurines
    UKW


    Anhang
    attachment icon Features der App ProVIA-Kids: A) Homescreen, B) Verhaltensanalyse, C) Ursachen des Problemverhaltens, D) Inhaltsverzeichnis Wissenskapitel, E) Auszug Wissenskapitel, F) Stimmungstagebuch

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin, Psychologie
    überregional
    Wettbewerbe / Auszeichnungen, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Dr. Julia Geissler von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKW erhielt beim DGKJP-Kongress in Rostock den mit 10.000 Euro dotierten Preis der Steinhausen-Stiftung; links Prof. Dr. Tobias Renner, Mitte Prof. Dr. Dr. Hans-Christoph Steinhausen


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