Aktuelle Analyse
Krankenstände: Strukturelle Ursachen angehen statt riskanter Scheinlösungen
Der Krankenstand in Deutschland befindet sich auf einem Hoch. Das liege, so ein gängiges Vorurteil, auch an Beschäftigten, die die Regelungen zur Lohnfortzahlung ausnutzen. Nach Analyse von Dr. Eike Windscheid-Profeta, Sozialexperte der Hans-Böckler-Stiftung, ist diese These nicht plausibel.*
Denn beispielweise schwanken die Krankenstände über die Jahre, ohne dass sich an den gesetzlichen Regelungen etwas geändert hat. Und Kürzungen bei der Lohnfortzahlung dürften das Problem verschärfen, dass Arbeitnehmer*innen krank zur Arbeit gehen – mit den damit verbundenen Ansteckungs-, Fehler- und Rückfallgefahren. Statt kranke Beschäftigte zu Sündenböcken zu machen, empfiehlt er, für bessere Arbeitsbedingungen und mehr betriebliche Prävention zu sorgen und so strukturelle Ursachen anzugehen. „Aktuell kursierende Vorschläge wie die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder gar kein Lohn am ersten Krankheitstag zielen komplett an den wissenschaftlichen Befunden vorbei“, sagt dazu Christina Schildmann, Leiterin der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung.
Für den Anstieg der Fehlzeiten in den vergangenen Jahren sind laut Windscheid-Profeta unter anderem psychische Erkrankungen verantwortlich, die im Schnitt mit besonders langen Ausfallzeiten verbunden sind. Solche Erkrankungen würden einerseits heutzutage besser erkannt und schon deshalb häufiger diagnostiziert. Andererseits dürfte der zunehmende Stress in vielen Betrieben durch Personalmangel und Digitalisierung eine Rolle spielen. Aktuell komme zu dieser Entwicklung noch die ungewöhnlich hohe Zahl an Atemwegsinfekten hinzu, die bis 2022 durch die Corona-Schutzmaßnahmen eingedämmt worden waren und nun umso heftiger grassieren.
Zugleich ist der Anstieg beim Krankenstand auch schlicht Ausdruck einer besseren Erfassung, wie jüngst auch eine Untersuchung der Krankenkasse DAK und weiterer Forschender ergeben hat. Während früher Krankschreibungen auf Papier nicht immer an die Krankenkassen weitergeleitet wurden, geschieht das bei der digitalen Version automatisch, sodass die Statistik präziser ausfällt.
Auch ob Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz bei den Fehlzeiten einnimmt, erweist sich bei genauerer Hinsicht als fraglich, betont Böckler-Experte Windscheid-Profeta. Laut der Industrieländerorganisation OECD, die Befragungsdaten ausgewertet hat, sind die hiesigen Fallzahlen weder im Zeitverlauf noch im Vergleich zu anderen EU-Ländern auffällig. Auch OECD-Experten erklären das höhere Niveau daher mit der besseren statistischen Erfassung. In anderen Untersuchungen liegt Deutschland zwar momentan vorn, das war aber auch schon ganz anders. Die Position schwankt über die Jahre – während sich an der Lohnfortzahlung seit vielen Jahren nichts geändert hat.
Diese Institution infrage zu stellen, erscheine auch ökonomisch wenig sinnvoll, so der Fachmann. Denn Lohnfortzahlung stelle sicher, dass Beschäftigte Krankheiten auskurieren können, und diene damit dem langfristigen Erhalt der Arbeitskraft. Tatsächlich stelle „Präsentismus“ ein Problem dar, das in der öffentlichen Debatte viel zu kurz kommt. Vor der Corona-Pandemie waren rund 70 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal pro Jahr krank bei der Arbeit, im Schnitt fast neun Arbeitstage. Seitdem dürften die Zahlen angesichts der neuen Homeoffice-Kultur eher noch gestiegen sein. Das sei auch deshalb alarmierend, weil Präsentismus die Gefahr von Unfällen oder Fehlern erhöht und dazu führt, dass Infekte die Runde machen.
Dazu geeignet, Fehlzeiten zu senken und die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten, sind nach Windscheid-Profetas Analyse Präventionsmaßnahmen wie Gefährdungsbeurteilungen oder betriebliche Gesundheitsförderung. Allerdings setzen viele Betriebe ihre gesetzlichen Verpflichtungen nicht vollständig oder nur halbherzig um – und schaden damit ihrer Belegschaft und letztlich sich selbst.
Dr. Eike Windscheid-Profeta
Abteilung Forschungsförderung, Experte für Institutionen der sozialen Marktwirtschaft
Tel.: 0211-7778-644
E-Mail: Eike-Windscheid@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
*Eike Windscheid-Profeta: Krankheitsbedingte Fehlzeiten: Zwischen Bettkanten und dünnen Personaldecken, WSI-Blogserie „Mythen der Sozialpolitik“, Dezember 2024. Volltext: https://www.wsi.de/de/blog-17857-krankheitsbedingte-fehlzeiten-zwischen-bettkant...
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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