idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
09.01.2025 09:40

Krankenstände: Strukturelle Ursachen angehen statt riskanter Scheinlösungen

Rainer Jung Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Hans-Böckler-Stiftung

    Aktuelle Analyse

    Krankenstände: Strukturelle Ursachen angehen statt riskanter Scheinlösungen

    Der Krankenstand in Deutschland befindet sich auf einem Hoch. Das liege, so ein gängiges Vorurteil, auch an Beschäftigten, die die Regelungen zur Lohnfortzahlung ausnutzen. Nach Analyse von Dr. Eike Windscheid-Profeta, Sozialexperte der Hans-Böckler-Stiftung, ist diese These nicht plausibel.*

    Denn beispielweise schwanken die Krankenstände über die Jahre, ohne dass sich an den gesetzlichen Regelungen etwas geändert hat. Und Kürzungen bei der Lohnfortzahlung dürften das Problem verschärfen, dass Arbeitnehmer*innen krank zur Arbeit gehen – mit den damit verbundenen Ansteckungs-, Fehler- und Rückfallgefahren. Statt kranke Beschäftigte zu Sündenböcken zu machen, empfiehlt er, für bessere Arbeitsbedingungen und mehr betriebliche Prävention zu sorgen und so strukturelle Ursachen anzugehen. „Aktuell kursierende Vorschläge wie die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder gar kein Lohn am ersten Krankheitstag zielen komplett an den wissenschaftlichen Befunden vorbei“, sagt dazu Christina Schildmann, Leiterin der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung.

    Für den Anstieg der Fehlzeiten in den vergangenen Jahren sind laut Windscheid-Profeta unter anderem psychische Erkrankungen verantwortlich, die im Schnitt mit besonders langen Ausfallzeiten verbunden sind. Solche Erkrankungen würden einerseits heutzutage besser erkannt und schon deshalb häufiger diagnostiziert. Andererseits dürfte der zunehmende Stress in vielen Betrieben durch Personalmangel und Digitalisierung eine Rolle spielen. Aktuell komme zu dieser Entwicklung noch die ungewöhnlich hohe Zahl an Atemwegsinfekten hinzu, die bis 2022 durch die Corona-Schutzmaßnahmen eingedämmt worden waren und nun umso heftiger grassieren.

    Zugleich ist der Anstieg beim Krankenstand auch schlicht Ausdruck einer besseren Erfassung, wie jüngst auch eine Untersuchung der Krankenkasse DAK und weiterer Forschender ergeben hat. Während früher Krankschreibungen auf Papier nicht immer an die Krankenkassen weitergeleitet wurden, geschieht das bei der digitalen Version automatisch, sodass die Statistik präziser ausfällt.

    Auch ob Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz bei den Fehlzeiten einnimmt, erweist sich bei genauerer Hinsicht als fraglich, betont Böckler-Experte Windscheid-Profeta. Laut der Industrieländerorganisation OECD, die Befragungsdaten ausgewertet hat, sind die hiesigen Fallzahlen weder im Zeitverlauf noch im Vergleich zu anderen EU-Ländern auffällig. Auch OECD-Experten erklären das höhere Niveau daher mit der besseren statistischen Erfassung. In anderen Untersuchungen liegt Deutschland zwar momentan vorn, das war aber auch schon ganz anders. Die Position schwankt über die Jahre – während sich an der Lohnfortzahlung seit vielen Jahren nichts geändert hat.

    Diese Institution infrage zu stellen, erscheine auch ökonomisch wenig sinnvoll, so der Fachmann. Denn Lohnfortzahlung stelle sicher, dass Beschäftigte Krankheiten auskurieren können, und diene damit dem langfristigen Erhalt der Arbeitskraft. Tatsächlich stelle „Präsentismus“ ein Problem dar, das in der öffentlichen Debatte viel zu kurz kommt. Vor der Corona-Pandemie waren rund 70 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal pro Jahr krank bei der Arbeit, im Schnitt fast neun Arbeitstage. Seitdem dürften die Zahlen angesichts der neuen Homeoffice-Kultur eher noch gestiegen sein. Das sei auch deshalb alarmierend, weil Präsentismus die Gefahr von Unfällen oder Fehlern erhöht und dazu führt, dass Infekte die Runde machen.

    Dazu geeignet, Fehlzeiten zu senken und die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten, sind nach Windscheid-Profetas Analyse Präventionsmaßnahmen wie Gefährdungsbeurteilungen oder betriebliche Gesundheitsförderung. Allerdings setzen viele Betriebe ihre gesetzlichen Verpflichtungen nicht vollständig oder nur halbherzig um – und schaden damit ihrer Belegschaft und letztlich sich selbst.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Eike Windscheid-Profeta
    Abteilung Forschungsförderung, Experte für Institutionen der sozialen Marktwirtschaft
    Tel.: 0211-7778-644
    E-Mail: Eike-Windscheid@boeckler.de

    Rainer Jung
    Leiter Pressestelle
    Tel.: 0211-7778-150
    E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de


    Originalpublikation:

    *Eike Windscheid-Profeta: Krankheitsbedingte Fehlzeiten: Zwischen Bettkanten und dünnen Personaldecken, WSI-Blogserie „Mythen der Sozialpolitik“, Dezember 2024. Volltext: https://www.wsi.de/de/blog-17857-krankheitsbedingte-fehlzeiten-zwischen-bettkant...


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).