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17.01.2025 17:00

Das Genom lesen und Evolution verstehen: Symbiosen und Gentransfer bei Blattkäfern

Angela Overmeyer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für chemische Ökologie

    Ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena und des Max-Planck-Instituts für Biologie in Tübingen hat den evolutionären Erfolg von Blattkäfern untersucht und herausgefunden, wie die Käfer mit Hilfe von Bakterien den Schlüssel zu einer immer effizienteren Pflanzenverdauung fanden.

    Ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena und des Max-Planck-Instituts für Biologie in Tübingen hat den evolutionären Erfolg von Blattkäfern, eine der artenreichsten Gruppen pflanzenfressender Tiere auf der Erde, untersucht. Die Forschenden zeigten, dass sich Symbiosen mit Bakterien in verschiedenen Unterfamilien der Blattkäfer wiederholt und unabhängig voneinander entwickelt haben und wesentlich zur effizienten Verdauung von pflanzlicher Nahrung beitragen. Diese symbiotischen Beziehungen geben zudem Aufschluss darüber, wie genetisches Material zwischen Bakterien und Käfern ausgetauscht wurde. Die Studie unterstreicht die Rolle des horizontalen Gentransfers, also der Aufnahme von fremdem, bakteriellem Erbgut in das Käfergenom, die vermutlich auf frühere Symbiosen zurückgeht. Insgesamt verdeutlicht die Studie die Bedeutung mikrobieller Partnerschaften und des genetischen Austauschs für die Anpassung der Blattkäfer an eine ansonsten nur schwer verdauliche Nahrung, die ihren evolutionären Erfolg begünstigt hat.

    Mit mehr als 50.000 beschriebenen Arten ist die Familie der Blattkäfer weltweit verbreitet und macht etwa ein Viertel der Artenvielfalt aller Pflanzenfresser aus. Blattkäfer ernähren sich von fast allen Pflanzengruppen. Sie leben sowohl im Wurzelbereich als auch in der Baumkrone und sogar unter Wasser. Viele Blattkäfer, wie zum Beispiel der Kartoffelkäfer, sind berüchtigte Schädlinge. Ihr Artenreichtum und ihre weltweite Verbreitung verdeutlichen ihren evolutionären Erfolg, der umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass Blätter eine schwer verdauliche Nahrungsquelle sind und unausgewogene Nährstoffe liefern.

    Ein Forschungsteam der Abteilung Insektensymbiosen am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena und der Forschungsgruppe Mutualismen am Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen hat sich nun gefragt, wie Blattkäfer diese Ernährungsherausforderungen im Laufe der Evolution bewältigt haben. Verwenden verschiedene Blattkäferarten die gleiche Strategie oder haben sie unterschiedliche Wege gefunden, um ihr Ernährungsziel zu erreichen?

    Die Rolle von fremdem Erbgut verstehen

    Fast alle Blattkäfer haben fremdes Erbgut in ihr eigenes Genom eingebaut, das für die Produktion von Enzymen verantwortlich ist, die für die Verdauung von pflanzlichen Zellwandbestandteilen benötigt werden. Solche Enzyme sind zum Beispiel Pektinasen, also Enzyme, die Pektine spalten. Für den Menschen sind Pektine unverdauliche Ballaststoffe, während viele Bakterien Pektine in ihrem Stoffwechsel verwerten können. Etwa die Hälfte der Blattkäferarten lebt in enger Partnerschaft mit symbiotischen Bakterien. Diese Symbionten versorgen die Käfer mit wichtigen Verdauungsenzymen und helfen ihnen so beim Abbau von Nahrungsbestandteilen. Häufig liefern sie den Käfern auch Vitamine und essentielle Aminosäuren.
    Aus eigenen Untersuchungen wussten die Forschenden bereits, dass die Käfer sowohl Pektinasen nutzen, die zum Käfergenom gehören, als auch solche, die von Symbionten kodiert werden. „Diese Verdauungsenzyme sind für Blattkäfer überlebenswichtig. Bisher wussten wir aber nur bruchstückhaft, welche Blattkäfer symbiotische Bakterien für die Verdauung benötigen und welche nicht, und woher die Pektinasen der Käfer stammen. Durch vergleichende Studien über alle Blattkäfergruppen hinweg wollten wir die evolutionären Szenarien rekonstruieren, die zum heutigen Verbreitungsmuster geführt haben“, erläutert Erstautor Roy Kirsch das Ziel der Studie.
    Mit Unterstützung nationaler und internationaler Kolleginnen und Kollegen hat das Team Genom- und Transkriptomanalysen an 74 Blattkäferarten aus der ganzen Welt durchgeführt. Durch diese vergleichende Analyse über alle Unterfamilien der Blattkäfer hinweg konnten die Forschenden nachvollziehen, wie die heutige Verteilung von käfereigenen und Symbionten-kodierten Enzymen im Laufe der Evolution entstanden ist. „Wir konnten außerdem zeigen, dass das Phänomen des horizontalen Gentransfers, bei dem Fremdgene aus Bakterien in das Käfergenom aufgenommen werden, entgegen bisheriger Annahmen recht häufig auftritt. Sowohl Symbiose als auch Gentransfer haben die Evolution der Insekten stark beeinflusst“, fasst Roy Kirsch die Ergebnisse zusammen.

    Dynamische Evolution von Pektinasen

    Die Analysen ergaben auch, dass die überwiegende Mehrheit der Käferarten entweder ihre eigenen, durch horizontalen Gentransfer erworbenen Pektinasen oder die Pektinasen ihrer bakteriellen Symbionten nutzt. Käfer- und Symbionten-Pektinasen wurden dagegen bei keiner Käferart gemeinsam gefunden.
    „Die binäre Verteilung der Käfer, die Pektinasen in ihrem Genom kodieren, im Vergleich zu denen, die sie symbiotisch erwerben, ist eines der auffälligsten Ergebnisse der Studie. Ein solches Muster wirft weitere Fragen darüber auf, wie horizontaler Gentransfer und Symbiose die Art und Weise geprägt haben, wie Käfer Blätter verzehren und verdauen, und welche Trade-offs mit dem "Outsourcen" eines wichtigen Stoffwechselmerkmals, also der Übertragung dieser Aufgabe an einen Partner, verbunden sind“, erklärt Hassan Salem, Leiter der Max-Planck-Forschungsgruppe Mutualismen.
    Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Evolution der Pektinasen dynamisch ist und sich durch einen Wechsel zwischen horizontalem Gentransfer und der Aufnahme von Symbionten auszeichnet. „Diesen Vorgang kann man sich folgendermaßen vorstellen: Bei der Etablierung einer Symbiose wird eine Käfer-Pektinase aus einem früheren horizontalen Gentransfer durch eine Symbionten-Pektinase ersetzt. Die Aufnahme eines Symbionten hat den Vorteil, dass dessen Pektinase neue Aktivitäten aufweisen oder effizienter sein kann und darüber hinaus zusätzlichen Nutzen mit sich bringt, zum Beispiel durch die Produktion weiterer Verdauungsenzyme oder essentieller Nährstoffe. Das käfereigene Pektinase-Gen wird nun nicht mehr benötigt und geht im Laufe der Evolution verloren. Im weiteren Verlauf der symbiotischen Interaktion könnte das Pektinase-Gen des Symbionten ins Käfer-Genom übertragen werden und der Symbiont könnte wieder verloren gehen, aber dieser Prozess muss noch genauer untersucht werden“, sagt Martin Kaltenpoth, Leiter der Abteilung Insektensymbiosen.

    Ein Weg zum evolutionären Erfolg

    Die Ergebnisse zeigen, wie wiederholter horizontaler Gentransfer und die Bildung von Symbiosen mit Bakterien Blattkäfern eine schnelle Anpassung an eine pflanzliche Ernährung ermöglichten und so zu ihrem erstaunlichen evolutionären Erfolg beitrugen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Roy Kirsch, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Abteilung Insektensymbiosen, Hans-Knöll-Straße 8, 07745 Jena, Tel. +49 3641 57-1555, E-Mail rkirsch@ice.mpg.de
    Prof. Dr. Martin Kaltenpoth, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, Abteilung Insektensymbiosen, Hans-Knöll-Straße 8, 07745 Jena, Tel. +49 3641 57-1500, E-Mail kaltenpoth@ice.mpg.de
    Dr. Hassan Salem, Max-Planck-Institut für Biologie, Mutualisms Research Group, Max-Planck-Ring 5, 72076 Tübingen, Tel. +49 7071 601-1367 E-Mail: hassan.salem@tuebingen.mpg.de


    Originalpublikation:

    Kirsch, R., Okamura, Y., García-Lozano, M., Weiss, B., Keller, J., Vogel, H., Fukumori, K., Fukatsu, T., Konstantinov, A. S., Montagna, M., Moseyko, A. G., Riley, E. G., Slipinski, A., Vencl, V. C., Windsor, D. M., Salem, H., Kaltenpoth, M., Pauchet, Y. (2025). Symbiosis and horizontal gene transfer promote herbivory in the megadiverse leaf beetles. Current Biology. DOI: 10.1016/j.cub.2024.12.02
    https://doi.org/10.1016/j.cub.2024.12.02


    Weitere Informationen:

    https://www.ice.mpg.de/97119/insect-symbiosis Abteilung Insektensymbiosen am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie Jena
    https://www.bio.mpg.de/126616/hassan-salem Max-Planck-Forschungsgruppe Mutualismen am Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen


    Bilder

    Blattkäfer Spilopyra sumptuosa
    Blattkäfer Spilopyra sumptuosa
    Veit Grabe / Roy Kirsch
    Max-Planck-Institut für chemische Ökologie

    Erwerb von Pektinasen bei Blattkäfern
    Erwerb von Pektinasen bei Blattkäfern
    Roy Kirsch
    Aus: Kirsch et al., Current Biology 2025. Erstellt in BioRender. Kirsch, R. (2024) - https://BioRender.com/l84e681


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Wissenschaftler
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Tier / Land / Forst, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Blattkäfer Spilopyra sumptuosa


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