Sprachwissenschaftler Dr. Sascha Michel über Social Media in Wahlkampfzeiten. Dr. Sascha Michel hat über die Kommunikation von Politikerinnen und Politikern am Beispiel von Twitter (heute X) promoviert. Der 43-Jährige stammt aus Rheinland-Pfalz, er hat in Mainz studiert und in Koblenz promoviert. Nach Stationen in Basel, Düsseldorf und Erfurt ist er seit 2020 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen.
Frage: Im Wahlkampf geht es ohnehin schon um zugespitzte Botschaften. Steigert sich diese Zuspitzung in den sozialen Medien noch einmal?
Dr. Sascha Michel: Interessanterweise nicht zwangsläufig. Mit einem Kollegen habe ich im letzten Bundestagswahlkampf den Instagram-Account der Grünen genauer untersucht. Hier geht es stark um Argumentation. Die Posts sind keine hingeworfenen Happen, sondern argumentativ teilweise hochkomplex. Social Media bedeutet nicht automatisch eine Verflachung der politischen Botschaft. Auch seit bei X die Zeichenbegrenzung gefallen ist, beobachte ich, dass dort zum Teil komplex argumentiert wird.
Frage: Wie geht das mit der nachgewiesen kurzen Aufmerksamkeitsspanne der allermeisten User einher?
Michel: Das Wichtigste kommt bei Instagram etwa sehr komprimiert daher – im Bild und meist in einer prägnanten Aussage. Die Kernbotschaft wird, genau wie auf dem Wahlplakat, direkt transportiert. In den meisten Fällen wird diese Kernaussage aber von intensiven und langen Texten begleitet. Es ist eine Option.
Frage: Haben es radikale Parteien leichter? Weil sie vermeintlich einfache Antworten bieten?
Michel: Es wird gerne unterstellt, dass die AfD in den sozialen Netzwerken so erfolgreich sei. Vergleicht man deren Auftritt mit beispielsweise dem der Grünen, dann polarisiert die AfD vielleicht noch etwas stärker, aber die Grünen machen das recht ähnlich. Seit Tagen führen Grüne, aber auch die Linke und die SPD, einen reinen Polarisierungs-Wahlkampf: Merz gegen „Wir“. Wortbruch gegen Wort halten.
Frage: Es heißt auch immer, TikTok sei einfacher für die AfD…
Michel: Spannend ist, warum die AfD so erfolgreich bei TikTok ist. Das liegt zum einem an der direkten und jugendnahen Kommunikation der Partei. Dieses „Influencertum“, das wir von Instagram kennen, beherrschen einige AfD-Akteure sehr gut, dadurch transportieren sie: Ich bin einer von Euch, ich bin nah bei Euch, ich kümmere mich. Zum anderen wird dieses nahbare Kommunizieren vom Algorithmus belohnt, so landen die AfD-Botschaften eben deutlich häufiger bei den Jugendlichen, es entsteht ein Gewöhnungseffekt. Nicht nur, aber auch durch TikTok ist so bei Jugendlichen eine andere Art von politischer Normalität entstanden. Es gibt hier eben nicht mehr die klassische Mitte und die Ränder rechts und links. Das hat sich gewandelt, für viele Jugendliche sind die Ränder in der Mitte angekommen, weil die Unterscheidung Politiker – Influencer verschwimmt. Unter anderem dadurch sind Jugendliche hier leichter zu „catchen“ als Erwachsene.
Frage: Das würde auch den Erfolg der AfD bei Erstwählerinnen und -wählern erklären.
Michel: Absolut. Junge Erstwählerinnen und -wähler werden inzwischen zu einem überwiegenden Teil durch Social Media politisch geprägt. Das lässt sich sehr gut mit den Daten der letzten Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen belegen.
Frage: Es geht also um Präsenz, nicht um politische Inhalte?
Michel: Zu einem großen Teil, aber Politiker äußern sich zum Beispiel nach wie vor auch bei X. Ich kann mich an keinen Artikel in einer Zeitung erinnern, in dem es hieß, „…sagte die Ministerin/der Minister in einem TikTok-Video“.
Frage: Für politische Inhalte bleibt X maßgeblich?
Michel: Ja, vor allem, wenn es um tagesaktuelle Dinge geht und um Themen, die schnell aufgegriffen werden sollen. Nur hier erreichen die Politikerinnen und Politiker sehr schnell die Medien. Es schafft auch keine andere Plattform, X zu ersetzen, weil die Journalistinnen und Journalisten alle dort sind. Es gab vereinzelte Abwanderungen aus der Politik zu Mastodon oder Bluesky. Aber die Masse der Medien ist eben nicht mitabgewandert. Alle schimpfen auf Elon Musk, aber bei X verbleiben sie dennoch. Und kommen sogar wieder zu X zurück, wie Robert Habeck beweist, der vor ein paar Jahren unter Protest ausgestiegen und pünktlich zum Wahlkampf wieder eingestiegen ist.
Frage: Lässt sich einigermaßen seriös sagen, welchen Einfluss soziale Medien auf Wahlen haben?
Michel: Rückschlüsse von Likes auf Stimmen sind kaum möglich. Allerdings kann man ganz gut versuchen, Trends aufzuspüren, sehen, wie kohärent die Parteien auf den sozialen Netzwerken agieren, wie viele Unterstützer sie haben und ob es gelingt, diese auch zu mobilisieren. Wir können also grobe Tendenzen erkennen.
Frage: Wie funktioniert Wahlkampf in den sozialen Medien?
Michel: Konsistenz und Kohärenz sind wichtig – nur für den Wahlkampf den X-Account zu reaktivieren oder zu TikTok zu gehen, ist nicht sehr authentisch. Wesentlich ist es, die Prägekräfte der Plattformen zu verstehen. Instagram hat eine völlig andere Prägekraft, man könnte in Anführungszeichen auch ‚Eigenlogik‘ sagen, als X, und die beiden funktionieren wieder anders als TikTok. So gibt es natürlich völlig unterschiedliche Zielgruppen, aber durchaus auch einen Stil, der sich auf der jeweiligen Plattform herausgebildet hat.
Frage: Wie sieht dieser Stil zum Beispiel bei Instagram aus?
Michel: Es werden Fragen eingebaut, die Community eingebunden, es geht um Nähesprachlichkeit, bestimmte Narrative und ein bestimmtes Framing, es werden Einblicke ins Privatleben gegeben und es darf auch mal mit einem Augenzwinkern kommuniziert werden. Das haben die Parteien mehr oder weniger alle übernommen, die CDU nutzt beispielsweise in diesem Wahlkampf Instagram sehr stark in diesem Stil, auch das Verwenden von Emojis und das Duzen der Follower zählt dazu. Dieser Stil wäre bei X beispielsweise eher markiert.
Frage: Dass wie früher ein Inhalt auf allen Plattformen gleich ausgespielt wird, gibt es folglich kaum noch?
Michel: Genau. Das machen weder die Parteien noch einzelne Politiker ausschließlich so. Politiker agieren in unterschiedlichen Netzwerken auch in unterschiedlichen Rollen. So ist es bei Facebook eher die Abgeordneten-Rolle, hier werden Posts abgesetzt, die für den Wahlkreis interessant sind. Bei X ist es hingegen die Funktionsrolle, also es wird als Ministerin oder Minister, Ausschussmitglied oder beispielsweise Inklusions-Beauftragter oder Verbraucherschutz-Beauftragte veröffentlicht. Instagram ist etwas offener, hier können Politikerinnen und Politiker häufiger auch in der Identitäts-Rolle kommunizieren. Dort kann man sich als Tierfreund präsentieren, Einblicke ins Familienleben geben oder auch mal Urlaubsbilder posten, also verschiedenste Facetten der Persönlichkeit zeigen. Mancher Hund von Politikerinnen und Politikern hat sogar einen eigenen Instagram-Account.
Frage: Wer in der Politik beherrscht das denn am besten?
Michel: Nahezu alle sind im Bereich Social Media sehr professionalisiert. Sie beherrschen das nicht nur, sondern schaffen es auch immer wieder, über die sozialen Medien ins Gespräch zu kommen. Ein gutes Beispiel ist #söderisst – den Hashtag werden die Meisten kennen.
Frage: Je skurriler die Botschaft, desto größer die Aufmerksamkeit?
Michel: So ist es, immer verbunden mit dem Risiko, dass man sich verhebt-Muss zum Beispiel ein Bundeskanzler auf TikTok seine Aktentasche präsentieren? Oder es wird übertrieben und ein Post geht nach hinten los – so wie es jüngst Karl Lauterbach passiert ist, als er in einem Tweet den Auschwitz-Gedenktag mit seiner Kritik an Friedrich Merz und der AfD vermengt hat. Die Gefahr sozialer Netzwerke für Politikerinnen und Politiker ist es, zu überdrehen. Und auf der anderen Seite kann auch alles skandalisiert werden und je nachdem, wer dann auf diese Skandalisierungsspirale aufspringt, kann es schwierig werden. Julia Klöckner wurde mal unterstellt, in einem Interview den Hitlergruß als freie Meinungsäußerung bezeichnet zu haben – hatte sie gar nicht. Das wurde zunächst von weniger bekannten Usern konstruiert, dann aber vom politischen Gegner aufgegriffen und schließlich sprangen auch mehrere Medien auf den Zug auf und auf einmal musste Frau Klöckner etwas klarstellen, was sie nie gesagt hatte.
Frage: Welche Rolle spielen bezahlte Werbeanzeigen?
Michel: Aus dem letzten Landtagswahlkampf in Hessen wissen wir, dass Werbeanzeigen beziehungsweise Ads thematisch geschaltet werden, so dass beispielsweise auf der Seite ImmoScout24 politische Wahlwerbung zum Thema „Wohnen“ auftauchte. Diese Individualisierung von politischer Werbung, die vermeintlich subtil daherkommt, dürfte auch in diesem Wahlkampf eine große Rolle spielen.
Frage: Um von den Medien wahrgenommen zu werden, geht es immer auch um Geschwindigkeit…
Michel: …und das birgt eben die Gefahr, „aus der Hüfte“ zu posten. Soziale Medien haben die Kommunikation schneller getaktet. Politikerinnen und Politiker müssen ständig liefern, wollen alle Plattformen bespielen und dabei auch immer noch der jeweiligen „Prägekraft“, der Logik der Plattform gerecht werden – das birgt Gefahren. Auch die, dass politische Kommunikation banalisiert wird – wie bei Olaf Scholz´ Aktentasche. Es bleibt ein Balanceakt.
Dr. Sascha Michel
Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart
Tel.: +49 241 80-96142
s.michel@isk.rwth-aachen.de
http://Theorie und Fallanalysen zur Kommunikation von Politiker*innen am Beispiel von Twitter, https://www.peterlang.com/document/1294531
Dr. Sascha Michel
Tanja Böhm
Fotografie Tanja Böhm
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medien- und Kommunikationswissenschaften
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).