Neue Studie
Sozialer Ausgleich durch Sozialstaat und Steuersystem wird schwächer – für 60 Prozent der Erwerbspersonen passiert zu wenig
Deutschland hat bei der Bekämpfung von Einkommensungleichheit und Armut nachgelassen. Zwar wirken sowohl das Steuersystem als auch der Sozialstaat in Richtung sozialer Ausgleich, doch im Zeitverlauf weniger stark als in früheren Jahren. Dabei ist der Wunsch nach staatlicher Umverteilung in der Bevölkerung weit verbreitet: Rund 60 Prozent der Erwerbspersonen finden, dass der Staat zu wenig gegen soziale Ungleichheit tut, nur rund 15 Prozent sehen das dezidiert anders.
Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.* Die 2010er Jahre hätten eigentlich gute Voraussetzungen geboten, weniger Ungleichheit zu erreichen und Armut zu verringern – doch trotz des jahrelangen Wirtschaftswachstums und relativ geringer Arbeitslosigkeit haben Einkommenskonzentration und Armut in dieser Zeit zugenommen, konstatieren die Studienautor*innen Dr. Dorothee Spannagel und Dr. Jan Brülle (Daten unten). Daher müsse dieser Zeitraum, in dem zunächst Union und FDP die Regierung stellten, dann die Union und die SPD als kleinere Koalitionspartnerin, insgesamt als „verlorenes Jahrzehnt“ im Kampf gegen Armut und Ungleichheit betrachtet werden.
In ihrer Untersuchung zeigen Spannagel und Brülle anhand aktueller Daten der WSI-Erwerbspersonenbefragung zum einen, wie die Menschen in Deutschland den Sozialstaat bewerten und welche Einstellungen sie zu Ungleichheit haben. Dazu wurden im Dezember 2024 mehr als 7000 Erwerbspersonen in Deutschland befragt – also Erwerbstätige und Arbeitsuchende. Durch den Fokus auf Erwerbspersonen bilden die Daten vor allem die Einstellungen derjenigen ab, die den Sozialstaat durch ihre Steuern und Abgaben maßgeblich finanzieren. Zum anderen greifen die Forschenden auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ab 2010 zurück, um das tatsächliche Ausmaß der Umverteilung zu ermitteln. Dabei handelt es sich um eine jährliche Wiederholungsbefragung, die unter anderem detaillierte Informationen über die Haushaltseinkommen enthält. Wegen der aufwendigen Datenaufbereitung im SOEP reichen die aktuellsten verfügbaren Daten bis 2021.
„Auch wenn für die Zeit der Ampelkoalition noch keine repräsentativen Panel-Daten vorliegen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Trend seit 2021 gedreht wurde. Einige Verbesserungen, etwa durch Einführung und Erhöhung des Bürgergelds, dürften nicht kompensiert haben, dass der soziale Ausgleich von Ungleichheit unter dem Strich seit etlichen Jahren tendenziell abnimmt“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Umso irritierender ist es, dass Forderungen nach Sozialabbau im Bundestagswahlkampf eine erhebliche Rolle spielen. Unsere und die Forschung anderer Institutionen zeigt, dass Zukunftssorgen und Angst, künftig im Lebensstandard abzurutschen, in den vergangenen Jahren zugenommen haben und dass solche Sorgen oft mit Entfremdung von demokratischen Institutionen einhergehen“, warnt die Soziologin. „Eine solide funktionierende soziale Absicherung“ sei ein zentraler Baustein für sozialen Frieden und demokratisches Miteinander, betonen auch die Studienautor*innen Spannagel und Brülle.
-Welche Erwartungen haben die Menschen an staatliche Umverteilung?-
Knapp 50 Prozent der in der aktuellen Erwerbspersonenerhebung Befragten sind der Meinung, dass Menschen mit geringem Einkommen besser als bisher unterstützt werden sollten. Nur eine Minderheit von rund 20 Prozent stimmte Ende 2024 dieser Aussage ausdrücklich nicht zu. Rund 60 Prozent finden, dass der Staat zu wenig gegen Ungleichheit unternimmt, hier sehen das sogar nur rund 15 Prozent dezidiert anders (siehe auch Abbildung 1 im Anhang). „Menschen in Deutschland wünschen sich also eine starke Rolle des Staates in der Einkommensverteilung“, schreiben Spannagel und Brülle. Die Meinung, der Staat solle Ungleichheit stärker bekämpfen, ist besonders bei Personen mit niedrigem Einkommen ausgeprägt und nimmt mit steigendem Einkommen tendenziell ab, wobei die Zustimmung bis in die obere Mitte der Einkommensverteilung überwiegt.
Bei der Frage nach möglichen Finanzierungsoptionen sprechen sich die Befragten grundsätzlich eher gegen eine Erhöhung von Steuern und Sozialabgaben aus. „Da ausschließlich Erwerbspersonen befragt wurden, überrascht es nicht, dass die Zustimmung hier niedriger ausfällt als in anderen Erhebungen, in denen die Stichprobe repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist“, sagt WSI-Direktorin Kohlrausch. Sowohl einer stärkeren Besteuerung von Vermögen als auch einer Anhebung des Spitzensteuersatzes stimmt aber jeweils eine Mehrheit zu. Einschnitte in den Sozialstaat anstelle von Umverteilung hingegen befürworten nur wenige.
-Wie hat sich die Umverteilung faktisch entwickelt?-
Die Forschenden stellen zunächst fest, dass der Sozialstaat und das progressive Steuersystem in Deutschland grundsätzlich funktionieren. Ohne Sozialtransfers gäbe es in Deutschland viel mehr Armut. Aber: Früher hat der soziale Ausgleich besser geklappt. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 lagen rund 35 Prozent der Bevölkerung mit ihrem sogenannten Markteinkommen unter der Armutsgrenze, die bei 60 Prozent des mittleren Einkommens im Land liegt. Mit ihrem verfügbaren Einkommen, also nach Steuern und Transfers, waren es 2010 noch gut 14 Prozent. Durch Umverteilung konnte die Armutsquote damit in jenem Jahr um 59 Prozent gesenkt werden. 2021 lag der Anteil derjenigen, die mit ihrem Markteinkommen unter der Armutsgrenze lagen, mit rund 34 Prozent ähnlich hoch wie 2010. Nach Steuern und Transfers war der Anteil der Armen mit knapp 18 Prozent jedoch deutlich höher als elf Jahre zuvor. Die Armutsquote wurde 2021 durch Umverteilung nur noch um 48 Prozent gesenkt, also ein spürbar geringerer Effekt, analysieren Spannagel und Brülle.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit der Einkommen misst: Während die Spreizung der Markteinkommen 2021 ähnlich hoch war, ist die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen höher als 2010. Auch hier zeigt sich, dass die staatliche Umverteilung nachgelassen hat.
-Woran liegt das?-
Ein genauerer Blick auf die Daten zeige, so Spannagel und Brülle, dass „vor allem wohlfahrtsstaatliche Leistungen in ihrer armutsschützenden und ungleichheitsreduzierenden Wirkung nachgelassen haben“. So blieb beispielsweise die Entwicklung der Regelsätze des ALG II im Untersuchungszeitraum bis 2021 deutlich hinter der Lohnentwicklung zurück und verharrte vielfach auf einem Niveau, das unterhalb der Armutsschwelle liegt. Auch die staatliche Rente wirkt heute weniger stark gegen Ungleichheit und Armut als früher, was die Forschenden auf eine Kombination aus sinkendem Rentenniveau und fehlender Mindestsicherung im Alter zurückführen. Aufgrund von brüchigen Erwerbsbiografien, Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt und Niedriglöhnen müssten mehr Menschen mit geringeren Rentenansprüchen auskommen. Für die zunehmende Anzahl der Menschen, die nicht auf ausreichende Leistungen der Sozialversicherungen zurückgreifen können, seien die bestehenden Grundsicherungsleistungen systematisch zu niedrig, um Armut zu verhindern, so das Fazit.
Dr. Dorothee Spannagel
WSI-Verteilungsexpertin
Tel.: 0211-7778-205
E-Mail: Dorothee-Spannagel@boeckler.de
Prof. Dr. Bettina Kohlrausch
Wissenschaftliche Direktorin WSI
Tel.: 0211-7778-186
E-Mail: Bettina-Kohlrausch@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
*Dorothee Spannagel, Jan Brülle: Weniger Umverteilung. Warum der Sozialstaat schlechter vor Armut schützt. WSI Report Nr. 99, Februar 2025. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009058
Die PM mit Abbildung (pdf): https://www.boeckler.de/data/pm_wsi_2025_02_11.pdf
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Deutsch
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