Das Gehirn beeindruckt durch seine einzigartige Fähigkeit, Informationen effizient zu verarbeiten und sich flexibel an wechselnde Herausforderungen anzupassen. Dem legte die Wissenschaft bislang zwei getrennte Prinzipien zugrunde: Kritikalität, also den Spagat zwischen Ordnung und Chaos, sowie die effiziente Kodierung, bei der das Gehirn überflüssige Signale reduziert und seine Ressourcen mit höchster Präzision nutzt. Eine Studie mit Beteiligung der Dresdner Hochschulmedizin, veröffentlicht in Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), zeigt jedoch, dass beide Prinzipien enger miteinander verknüpft sein könnten, als bislang angenommen.
Die Studie „Signatures of criticality in efficient coding networks“ liefert neue Einblicke in die grundlegenden Mechanismen der Gehirnfunktion. Dafür entwickelte ein internationales Forschungsteam in Dresden, Tübingen, Paris und Shanghai ein mathematisches Modell, um ein neuronales Netzwerk zu simulieren, das die Funktionsweise realer Gehirnzellen nachahmt. Anders als in früheren Studien wurde das Netzwerk nicht direkt auf einen kritischen Zustand ausgerichtet, sondern darauf optimiert, Informationen möglichst effizient zu verarbeiten – ähnlich wie das Gehirn im Alltag.
Ein zentrales Experiment bestand darin, das Rauschniveau im Netzwerk zu variieren. „Rauschen“ steht in diesem Kontext für ein Menge X an zufälligen Störungen im System. Die Forschenden wollten so herausfinden, wie diese Störungen die Leistungsfähigkeit des Netzwerks beeinflussen.
Die Ergebnisse der Simulation waren eindeutig: Mittleres Rauschniveau bedeutet maximale Leistung. Bei einem moderaten Grad an Störungen zeigte das Netzwerk die beste Informationsverarbeitung. Gleichzeitig traten typische Signaturen von Kritikalität auf – darunter sogenannte „neuronale Lawinen“. Diese Aktivitätskaskaden folgen einer charakteristischen Verteilung von Größe und Häufigkeit.
Zudem wurde deutlich: Zu viel oder zu wenig Rauschen schadet. Bei einem zu niedrigen Rauschniveau synchronisierten sich die Neuronen zu stark, was die Flexibilität des Netzwerks einschränkt. Zu viel Rauschen führte hingegen zu chaotischen, ineffizienten Aktivitätsmustern.
Die beste Leistung und der kritische Zustand traten also gleichzeitig auf – an einem Balancepunkt, an dem Präzision und Flexibilität perfekt aufeinander abgestimmt waren. Mit Hilfe des Modells konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nachweisen, dass Kritikalität kein Zufallsphänomen ist, sondern ein natürlicher Nebeneffekt optimaler Informationsverarbeitung.
„Das Gehirn hat sich evolutionär augenscheinlich genau an diesen Balancepunkt zwischen Ordnung und Chaos angepasst“, erklärt Jun.-Prof. Shervin Safavi, Erstautor und verantwortlich für das Computational Machinery of Cognition (CMC) Lab an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden (TUD) und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum. „Dieser Zustand ermöglicht nicht nur eine effiziente Verarbeitung von Informationen, sondern bereitet das Gehirn auch darauf vor, flexibel auf wechselnde Anforderungen zu reagieren.“
Ist dieses Gleichgewicht gestört, können psychische Störungen die Folge sein. Bei Schizophrenie tritt beispielsweise oft eine sogenannte Hyperkonnektivität auf, was zu chaotischen neuronalen Aktivitäten und gestörtem Denken führt. Umgekehrt lassen Depressionen oder Zwangsstörungen auf eine übermäßige Ordnung und Starrheit in den neuronalen Schaltkreisen schließen, was bedeutet, dass sich Denkmuster wiederholen und die Anpassung an neue Situationen erschwert wird. Ein besseres Verständnis dieses Gleichgewichts könnte neue Wege für gezieltere Behandlungen eröffnen, die das Gleichgewicht der Gehirnfunktion wiederherstellen.
„Durch die Untersuchung der Kritikalität des Gehirns können wir möglicherweise Prinzipien aufdecken, die nicht nur unser Verständnis von Kognition und geistiger Gesundheit verbessern, sondern auch die Entwicklung robusterer und anpassungsfähigerer künstlicher Intelligenzsysteme ermöglichen“, hofft Shervin Safari. „So könnten neuronale Netze, die sich an der Kritikalität orientieren, eine höhere Recheneffizienz und Widerstandsfähigkeit erreichen und die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns widerspiegeln, Stabilität und Flexibilität in Einklang zu bringen.“
Jun-Prof. Dr. Shervin Safavi
Computational Neuroscience
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Fakultät für Medizin, TU Dresden
Tel.: +49 351 45817367
E-Mail: shervin.safavi@tu-dresden.de
Publikation: Safavi, S., Chalk, M., Logothetis, N. K., & Levina, A. (2024). Signatures of criticality in efficient coding networks. Proceedings of the National Academy of Sciences, 121(41), e2302730121.
https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2302730121
Grafische Darstellung des menschlichen Gehirns
Alexmit
PantherMedia / Alexmit
Porträtfoto von Jun-Prof. Dr. Shervin Safavi
MPI für Biologische Kybernetik
Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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