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17.03.2025 12:10

Hannover Messe: Neue Klimatechnik für Haus, Auto, Industrie – Wie Drähte und Bleche nachhaltig kühlen und heizen

Claudia Ehrlich Pressestelle der Universität des Saarlandes
Universität des Saarlandes

    Eine neuartige Klimatechnologie kann deutlich energiesparender und nachhaltiger kühlen und heizen als heutige Verfahren. Die Elastokalorik braucht keine klimaschädlichen Kältemittel, kein Öl und kein Gas. Dünne Drähte und Bleche aus Nickel-Titan transportieren die Wärme, allein, indem sie verformt werden. Das Forschungsteam der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki von der Universität des Saarlandes entwickelt Prototypen jetzt auch für Fahrzeuge. Binnen fünf Jahren soll das Verfahren bereit sein für die Praxis. Auf der Hannover Messe demonstriert das Team die Technologie unter anderem mit dem ersten Kühlschrank-Prototyp vom 31. März bis 4. April in Halle 2 (Saarland-Stand B10).

    Kälte ist laut Physik nichts anderes als abwesende Wärme. Beim Kühlen wird Wärme abtransportiert, beim Heizen wird sie zugeführt. Und dies machen Saarbrücker Forscherinnen und Forscher auf besonders einfallsreiche Weise: Sie nutzen dafür haarfeine Drahtbündel oder dünne Bleche aus der Legierung Nickel-Titan. Diese werden gezogen und wieder entlastet. Dabei nehmen sie Wärme auf und geben diese andernorts wieder ab. Aus diesem einfachen Prinzip entwickelt das Forschungsteam von Stefan Seelecke und Paul Motzki an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema) in mehreren millionenschweren Forschungsprojekten eine neuartige Klimatechnologie.

    Die EU-Kommission bezeichnete die Elastokalorik bereits als zukunftsträchtigste Alternative zu bisherigen Heiz- und Kühlmethoden. Das Weltwirtschaftsforum listete das Verfahren 2024 in seinen „TOP Ten Emerging Technologies“. Im Vergleich zu herkömmlichen Methoden, die viel Energie verbrauchen und mit Treibhausgasen und Kältemitteln Klima wie Umwelt belasten, ist das neue Verfahren energieeffizienter und so sauber wie der Strom, mit dem es betrieben wird. Schädliche Kältemittel und fossile Brennstoffe braucht es nicht. Damit hat die Elastokalorik, zu deren Pionieren Stefan Seelecke und Paul Motzki zählen, das Potenzial, künftig weltweit das Energieproblem um ein gutes Stück zu lindern. Der ⁠Endenergieverbrauch⁠ für Wärme und Kälte verursacht in Deutschland laut Umweltbundesamt gut die Hälfte des gesamten Endenergieverbrauchs. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur IEA entfallen derzeit allein auf die Raumkühlung zwölf Prozent des gesamten globalen Energiebedarfs. „Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Zahl bis 2050 verdreifachen könnte“, sagt Zema-Geschäftsführer Paul Motzki, Professor für smarte Materialsysteme für innovative Produktion der Universität des Saarlandes.

    Den Kinderschuhen könnte die Elastokalorik bald entwachsen. Die Forscher und ihr Team arbeiten daran, die Technologie zügig in die Praxis zu bringen. Um diesen Weg zu beschleunigen, investiert der Bund für eine Laufzeit von maximal neun Jahren mehr als 17 Millionen Euro im Projekt DEPART!Saar, bei dem die Forscherinnen und Forscher mit Wissenschaftseinrichtungen und Industriepartnern zusammenarbeiten.

    Mit der Volkswagen AG, dem Freiburger Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM und der Bochumer Firma Ingpuls entwickelt das Ingenieurteam die Technologie in einem anderen, soeben gestarteten Projekt so weiter, dass sie zukünftig mit wenig Energieverbrauch und Gewicht in den Klimaanlagen von Elektroautos stecken oder deren Batterien kühlen kann. „In dem mit dreieinhalb Millionen Euro vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Projekt entstehen derzeit die ersten Prototypen“, erklärt Paul Motzki.

    In einem weiteren neuen Projekt entwickelt das Forschungsteam eine Elastokalorik-Klimaanlage. Diese soll Wohnhäuser dezentral zimmerweise über Lüftungsschlitze in den Außenwänden kühlen und heizen. Paul Motzki und sein Team gewannen 2024 hierfür mit einem europäischen Konsortium eine prestigeträchtige „EIC Pathfinder Challenge“ des Europäischen Innovationsrates in Höhe von vier Millionen Euro. Diese wird vergeben für „visionäre, radikal neue Technologien, die Wandel ins Leben bringen können, globale Herausforderungen angehen und ganz neue Märkte schaffen“. Innerhalb der nächsten drei Jahre entsteht in diesem Projekt namens „SMACool“ der Prototyp der Klimaanlage. Beteiligt sind die Universitäten Ljubljana und Neapel (Federico II) und das Unternehmen exergyn aus Irland. „Die Elastokalorik funktioniert zugleich als Kühlanlage und Wärmepumpe. Ihr Wirkungsgrad beläuft sich bislang auf das Drei- bis Fünffache im Vergleich zu heutigen Anlagen. Sie wird also deutlich weniger Strom benötigen“, sagt Paul Motzki, der das Gesamtprojekt leitet.

    Beim Kühlen wie beim Heizen erreicht das Forschungsteam bereits Temperaturdifferenzen von jeweils rund 20 Grad Celsius. „Dies gilt für einstufige Bauelemente“, präzisiert Paul Motzki, „bauen wir die Systeme mehrstufig aus, erzielen wir sehr viel größere Temperaturspannen.“ Die Basis aller Prototypen ist dabei eine außergewöhnliche Eigenart der Metalllegierung Nickel-Titan: Diese besitzt ein „Formgedächtnis“. Nickel-Titan hat zwei Kristallgitter, zwei „Phasen“, die ineinander übergehen, und sich sozusagen aneinander „erinnern“ können. Solche Phasen kennt jeder von Wasser: fest, also Eis, flüssig und gasförmig. Anders als bei Wasser sind bei Nickel-Titan jedoch beide Phasen fest. Wandelt sich eine Phase in die andere um, nehmen die Drähte oder Bleche Wärme auf, wechselt die Phase erneut, geben sie Wärme ab. Auf diese Weise kann, wenn Luft an ihnen vorbeiströmt, Räumen Wärme entzogen oder zugeführt werden. „Je nach Anwendung verwenden wir Drähte, dünne Bleche oder mittlerweile sogar 3D-gedruckte komplexere Geometrien aus Nickel-Titan“, erläutert Paul Motzki.

    Richtig kompliziert wird es, wenn aus dem simplen Prinzip praxistaugliche Kühl- und Heizverfahren entstehen sollen. Das ist die Spezialität der Saarbrücker Expertinnen und Experten für smarte Materialsysteme. Sie konstruieren Prototypen mit cleverer Mechanik so, dass sie in Kreislaufsystemen funktionieren. Sie erforschen, wie Antriebe Bleche oder Drähte permanent in Gang halten, um Luft, Wasser oder etwa Wasserglycol daran vorbeizuleiten. Sie erforschen, wie der beste Kühl- oder Heizeffekt erzielt wird, wie Luft oder Fluid optimal strömen, welche Form der Bleche und welche Bündel an Drähten am besten geeignet sind, wie stark diese für eine bestimmte Kühl- oder Heizleistung belastet und entlastet werden müssen und vieles mehr. Sie haben eine Software entwickelt, mit der sie die Heiz- und Kühltechnik für verschiedene Anwendungen anpassen und Kühlsysteme simulieren und planen können. „Wir wollen das Innovationspotenzial der Elastokalorik in verschiedensten Anwendungsgebieten einbringen, etwa auch in der Industriekühlung oder bei Haushaltsgeräten“, sagt Paul Motzki. Dafür erforscht das Ingenieurteam zusammen mit auf Materialien spezialisierten Partnern wie der Ingpuls GmbH den kompletten Kreislauf von Materialherstellung, Produktion bis Recycling.

    Die neue Technologie ist das Ergebnis aus mehr als 15 Jahren Forschung in mehreren in Millionenhöhe geförderten Forschungsprojekten und in mehrfach international ausgezeichneten Doktorarbeiten. Ergebnisse sind unter anderem der weltweit erste Kühl- und Heizdemonstrator und der weltweit erste Mini-Kühlschrank mit dieser Technologie: Anhand dieses Prototyps erläutern die Forscherinnen und Forscher auf der diesjährigen Hannover Messe, wie Elastokalorik kühlt: An jedem Messetag um 10.30 Uhr, 13.30 Uhr und 16.30 Uhr finden Vorführungen statt.

    In diesem ersten Elastokalorik-Kühlschrank sorgt ein patentierter Nockenantrieb dafür, dass Bündel aus 200 Mikrometer dünnen Nickel-Titan-Drähten fortwährend um eine runde Kühlkammer rotieren. Während sie im Kreis wandern, werden sie auf einer Seite belastet, also gezogen, und auf der anderen entlastet. Luft strömt an den rotierenden Bündeln vorbei in die Kühlkammer. Dort werden die Drähte entlastet und entziehen der Luft Wärme. Beim Weiterdrehen transportieren die Drähte diese Wärme aus der Kühlkammer heraus. Draußen werden sie gezogen und geben die Wärme ab. „In der Kühlkammer zirkuliert die Luft nur um entlastete Drähte. Damit erreicht dieser Prototyp etwa 15 Grad Celsius“, sagt Paul Motzki.

    Die Technik kommt ohne Sensoren aus. „Sie ist ihr eigener Sensor. Jeder Messwert des elektrischen Widerstandes entspricht einer bestimmten Deformation der Drahtbündel oder Bleche. Mit Künstlicher Intelligenz erkennt das System zu jeder Zeit effizient ihre genaue Position, auch bei Störeinflüssen“, erläutert der Forscher.

    Hintergrund

    Formgedächtnistechnologie
    Das Forschungsteam für Smarte Materialien an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema) wurde von Professor Stefan Seelecke begründet und gemeinsam mit Professor Paul Motzki in den vergangenen Jahren intensiv ausgebaut. Das Team nutzt die Formgedächtnis-Technologie für die verschiedensten Anwendungen vom Robotergreifer bis hin zu Ventilen und Pumpen. Zahlreiche Doktorandinnen und Doktoranden und sogar auch bereits Studierende forschen an der Technologie mit. Sie ist Gegenstand zahlreicher Doktorarbeiten und vieler auch international ausgezeichneter Veröffentlichungen in Fachzeitschriften. Unter anderem die EU und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördern beziehungsweise förderten die Fortschritte der Forschung.

    Um die Forschungscommunity auf diesem noch neuen Forschungsgebiet zusammenzubringen und sie mit Blick auf praktische Umsetzung mit Unternehmen zu vernetzen, haben die Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki die internationale Fachgesellschaft „International Elastocaloric Society“ gegründet, die von Saarbrücken aus aufgebaut wird. Vom 13. bis 15. Mai 2025 wird die zweite internationale Elastokalorik-Konferenz wieder in Saarbrücken stattfinden, bevor sie ab nächstem Jahr auf Welttour gehen wird.

    Um intelligente Materialsysteme in die Industriepraxis zu bringen, haben die Wissenschaftler die Firma mateligent GmbH gegründet, die ebenfalls am Stand auf der Hannover Messe vertreten sein wird.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr.-Ing. Paul Motzki, Professur Smarte Materialsysteme für innovative Produktion der Universität des Saarlandes und ZeMA
    +49 (681) 85787-13; paul.motzki@uni-saarland.de
    Franziska Louia, Gruppenleiterin Elastokalorik
    +49 (681) 302-71364; franziska.louia@imsl.uni-saarland.de


    Weitere Informationen:

    https://imsl.de – Lehrstuhl für intelligente Materialsysteme
    https://smip.science – Professur Smarte Materialsysteme für innovative Produktion
    https://imsl.de/projekte – Infos und Videos zu Forschungsprojekten
    https://zema.de - ZeMA


    Bilder

    Wie die Elastokalorik kühlt, zeigt das Forschungsteam auf der diesjährigen Hannover Messe mit dem ersten Kühlschrank-Prototyp. Die Doktoranden Lukas Ehl (links) und Ivan Trofimenko (rechts) forschen mit an der neuen Klimatechnologie.
    Wie die Elastokalorik kühlt, zeigt das Forschungsteam auf der diesjährigen Hannover Messe mit dem er ...
    Foto: Oliver Dietze
    Universität des Saarlandes

    Paul Motzki, Professor für smarte Materialsysteme für innovative Produktion der Universität des Saarlandes und Geschäftsführer des Zentrums für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA).
    Paul Motzki, Professor für smarte Materialsysteme für innovative Produktion der Universität des Saar ...
    Foto: Oliver Dietze
    Universität des Saarlandes


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
    Elektrotechnik, Maschinenbau, Umwelt / Ökologie, Werkstoffwissenschaften
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Wie die Elastokalorik kühlt, zeigt das Forschungsteam auf der diesjährigen Hannover Messe mit dem ersten Kühlschrank-Prototyp. Die Doktoranden Lukas Ehl (links) und Ivan Trofimenko (rechts) forschen mit an der neuen Klimatechnologie.


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    Paul Motzki, Professor für smarte Materialsysteme für innovative Produktion der Universität des Saarlandes und Geschäftsführer des Zentrums für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA).


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