Ein internationales Forschungsteam – unter ihnen Senckenberg-Wissenschaftler Prof. Dr. Pedro Martínez Arbizu – hat die seltene Gelegenheit genutzt, die sich durch das Abbrechen des riesigen Eisbergs A-84 ergab, um eine zuvor unzugängliche Meeresbodenfläche zu erkunden. Die Expedition war die erste detaillierte, umfassende und interdisziplinäre Untersuchung einer so großen Fläche, die zuvor von einem Schelfeis bedeckt war. Mit ferngesteuerten Fahrzeugen entdeckten die Forschenden in bis zu 1300 Metern Tiefe überraschend artenreiche Ökosysteme. Die Expedition liefert neue Erkenntnisse über das Leben unter antarktischen Schelfeisen und zu den Auswirkungen des Klimawandels.
Am 13. Januar dieses Jahres löste sich der gigantische Eisberg A-84 vom George-VI-Schelfeis und treibt seitdem entlang der Küste der Antarktis. Ein internationales Forschungsteam an Bord des Forschungsschiffs R/V Falkor (too) des Schmidt Ocean Institute, das zu dem Zeitpunkt in der Bellingshausensee arbeitete, änderte daraufhin kurzerhand seine Forschungspläne, um ein Gebiet zu untersuchen, das bis vor Kurzem noch unter Eis lag. „Wir haben die Gelegenheit sofort genutzt, unseren Expeditionsplan geändert und sind losgezogen, um zu erforschen, was in den Tiefen unter den Eismassen geschieht“, so die Expeditionsleiterin Dr. Patricia Esquete vom Centre for Environmental and Marine Studies (CESAM) und dem Department of Biology (DBio) an der Universität Aveiro, Portugal. „Am 25. Januar haben wir den durch den Abbruch neu freigelegten Meeresboden erreicht. Wir waren damit die ersten Menschen, die dieses nie zugängliche Gebiet erkunden konnten. Der Eisberg hatte eine Fläche von 510 Quadratkilometern – etwa so groß wie Chicago – und legte eine ebenso große Meeresbodenfläche frei“, fügt Expeditionsteilnehmer Prof. Dr. Pedro Martínez Arbizu von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven hinzu.
Mit dem ferngesteuerten Fahrzeug ROV SuBastian des Schmidt Ocean Institute beobachtete das Team den Tiefseeboden über einen Zeitraum von acht Tagen und entdeckte artenreiche Ökosysteme in Tiefen von bis zu 1300 Metern. Die Aufnahmen zeigten große Korallen und Schwämme, die eine Vielzahl von Lebewesen beherbergen, darunter Eisfische, riesige Seespinnen und Oktopusse. Diese Entdeckung liefert neue Erkenntnisse darüber, wie Ökosysteme unter den schwimmenden Abschnitten des antarktischen Eisschilds funktionieren. „Wir hatten nicht erwartet, ein so schönes, blühendes Ökosystem zu finden. Aufgrund der Größe der Tiere gehen wir davon aus, dass diese Gemeinschaften seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Hunderten von Jahren existieren“, erläutert Esquete. Martínez Arbizu ergänzt: „Wir waren überrascht von der erheblichen Biomasse und Biodiversität der Ökosysteme und sind uns sicher, dass es auf diesem nun zugänglichen Gebiet zahlreiche neue Arten zu entdecken gibt.“
Über das Leben unter den schwimmenden Schelfeisen der Antarktis ist nur wenig bekannt. 2021 berichteten Forscher*innen des British Antarctic Survey erstmals über Anzeichen von bodenbewohnenden Organismen unter dem Filchner-Ronne-Schelfeis im südlichen Weddellmeer. Die Expedition mit der Falkor (too) war jedoch die erste, die ein ferngesteuertes Fahrzeug einsetzte, um diese abgelegene Region zu erkunden. Tiefsee-Ökosysteme sind normalerweise auf Nährstoffe angewiesen, die langsam von der Oberfläche zum Meeresboden absinken. Diese antarktischen Ökosysteme waren jedoch seit Jahrhunderten von 150 Meter mächtigem Eis bedeckt und somit völlig von Oberflächennährstoffen abgeschnitten. „Möglich ist es, dass die dortige Fauna über Meeresströmungen versorgt wird, welche ebenfalls Nährstoffe transportieren können. Der genaue Mechanismus, der diese Ökosysteme versorgt, ist jedoch noch nicht vollständig verstanden“, so der Wilhelmshavener Meeresforscher.
Die neu freigelegte antarktische Meeresbodenfläche ermöglichte es dem internationalen Team – mit Wissenschaftler*innen aus Portugal, Großbritannien, Chile, Norwegen, Neuseeland, den Vereinigten Staaten und Deutschland – entscheidende Daten über die Vergangenheit des antarktischen Eisschilds zu sammeln, das in den letzten Jahrzehnten aufgrund des Klimawandels an Masse und Ausdehnung verloren hat.
„Der Eisverlust in der Antarktis ist ein bedeutender Faktor für den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels“, erklärt Expeditionsleiter Dr. Sasha Montelli vom University College London (UCL). „Unsere Arbeit ist entscheidend, um den langfristigen Kontext dieser jüngsten Veränderungen zu liefern und unsere Fähigkeit zur Prognose zukünftiger Entwicklungen zu verbessern – Vorhersagen, die als Grundlage für politische Maßnahmen dienen können. Wir werden zweifellos weitere wichtige Entdeckungen machen, während wir unsere Daten analysieren.“ Neben der Sammlung biologischer und geologischer Proben setzte das Wissenschaftsteam autonome Unterwasserfahrzeuge, sogenannte Glider, ein, um die Auswirkungen von Schmelzwasser auf die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Region zu untersuchen. Erste Daten deuten auf eine hohe biologische Produktivität und einen starken Schmelzwasserfluss vom George-VI-Schelfeis hin.
„Das George-VI-Schelfeis verliert schon seit Jahrzehnten Eis. Erste Beobachtungen stammen aus den 1940er-Jahren. Im Gegensatz zu vielen anderen Schelfeisen liegt es zwischen der Antarktischen Halbinsel und der Alexander-Insel, was es bisher einigermaßen stabil gehalten hat. Trotzdem zieht es sich langsam zurück. Es ist zu befürchten, dass das schützende Meereis immer weiter schwindet und Abbrüche wie der von A-84 häufiger werden“, warnt Martínez Arbizu.
„Das Wissenschaftsteam war ursprünglich in dieser entlegenen Region, um den Meeresboden und das Ökosystem an der Schnittstelle zwischen Eis und Meer zu untersuchen“, erklärt Dr. Jyotika Virmani, Geschäftsführerin des Schmidt Ocean Institute. „Die Tatsache, dass wir genau zu dem Zeitpunkt dort waren, als sich dieser Eisberg vom Schelfeis löste, bot eine seltene wissenschaftliche Gelegenheit. Zufällige Entdeckungsmomente sind Teil der Faszination der Meeresforschung – sie ermöglichen es uns, als Erste die unberührte Schönheit unserer Welt zu erleben.“
Prof. Dr. Pedro Martínez Arbizu
Senckenberg am Meer
Tel. 04421 9475100
pmartinez@senckenberg.de
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ROV SuBastian / Schmidt Ocean Institute
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Meer / Klima
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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