Die Bergische Universität Wuppertal (BUW) ist in diesem Jahr Gastgeberin der 65. Wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM), die vom 2. bis 5. April stattfindet. Ein Schwerpunktthema dabei: „Arbeiten mit Krankheiten“. Im Interview spricht Prof. Dr. Hans Martin Hasselhorn, Tagungspräsident und Leiter des Lehrstuhls für Arbeitswissenschaft an der BUW, darüber, was Arbeiten mit gesundheitlichen Einschränkungen insbesondere für ältere Beschäftigte bedeutet und gibt Impulse, was Unternehmen und Politik für sie tun können und sollten.
Arbeitnehmende als Gruppe werden älter und weniger. Da ist es besonders wichtig, bei denen die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten, die noch im Arbeitsleben stehen. Besonders herausfordernd ist das bei Beschäftigten, die im Arbeitsleben gesundheitliche Einschränkungen erfahren. Wie viele betrifft das in Deutschland?
Die Politik beschwört immer wieder, die Menschen sollten „gesund arbeiten bis zur Rente“. Doch für die meisten älteren Beschäftigten bleibt das ein Wunschtraum. Erwerbstätigkeit mit Krankheit ist dagegen Realität in den Betrieben – und zwar immer mehr, weil immer mehr Ältere im Erwerbsleben verbleiben. Seit 2011 beobachten und befragen wir mit unserer lidA-Studie (siehe auch Infokasten „Die lidA-Studie“, Anm. d. Red.) ältere Beschäftigte in Deutschland auf ihrem Weg vom Arbeitsleben in den Ruhestand. 62 Prozent von ihnen fühlen sich bei anstrengenden Tätigkeiten im Alltag durch ihren Gesundheitszustand beeinträchtigt. Nur jede*r Zweite bezeichnet die eigene allgemeine Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“.
Hochgerechnet bedeutet dies, dass heutzutage sieben der 15 Millionen Beschäftigten zwischen 50 und 64 Jahren erwerbstätig sind, obwohl ihre Gesundheit „nicht gut“ ist. Die Wirtschaft benötigt auch sie im Erwerbsleben. Die wahre Herausforderung der Betriebe ist also weniger, sicherzustellen, dass die Menschen gesund bis zur Rente arbeiten, sondern dass sie mit ihren gesundheitlichen Einschränkungen gut und gern bis zur Rente arbeiten können.
Arbeiten mit Krankheit(en) ist ein weites Feld. Welche zentralen Herausforderungen sehen Sie und wo knüpfen Sie mit Ihrer Forschung an, um dafür nach Antworten – und Lösungen für die Praxis – zu suchen?
Das Thema „Arbeiten mit Krankheit“ ist in der hiesigen arbeitsmedizinischen Forschung gar nicht so prominent, wie man meinen sollte. In den Niederlanden ist man hier in der Forschung schon viel weiter, weil dort die Arbeitgeber ihren Beschäftigten im Krankheitsfall den Lohn für zwölf Monate weiterbezahlen müssen. Sie haben also ein großes Interesse daran, dass die Beschäftigten nicht krankheitsbedingt ausfallen – und wenn doch, dass sie dann möglichst schnell und nachhaltig wieder in den Betrieb zurückkommen. Also haben wir unser Forschungsprogramm mit niederländischen Kolleginnen abgestimmt.
Aktuelle Ergebnisse dazu haben wir gerade veröffentlicht: betriebliche Maßnahmen zur Förderung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit werden von fast allen Beschäftigten, die sie erhalten, als hilfreich bewertet. Das ist unerwartet viel und natürlich sehr erfreulich. Aber obwohl sich zwei Drittel aller älteren Beschäftigten solche Maßnahmen wünschten, hat nur jede*r Sechste sie erhalten. Und gerade die Gruppen, die sie besonders nötig hätten, erhalten sie am wenigsten. Es ist wichtig, dass wir dieses Phänomen mal mit Zahlen belegen können. Aus Präventionssicht ist die entscheidende Frage nun: Warum bleibt dieser große Bedarf trotz der hohen erlebten Wirksamkeit weitgehend ungedeckt? Dies wollen wir in der kommenden Welle der lidA-Studie 2027 vertieft untersuchen.
Gibt es wichtige Aspekte, die Unternehmen, Arbeitnehmende oder auch das Umfeld Ihrer Kenntnis nach bei dem Thema gar nicht so richtig auf dem Schirm haben?
„Arbeiten mit Krankheit“ ist immer noch eine zu versteckte Realität. Viele betroffene Beschäftigte glauben, sie wären mit ihren gesundheitlichen Problemen allein und müssten bei ihrer Arbeit selber damit zurechtkommen. Das sollte nicht so sein! Unsere Ergebnisse zeigen, dass man sehr viel tun kann, um Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen ein gutes Arbeiten zu ermöglichen. Wer nicht gleich zum Vorgesetzten oder Schwerbehindertenbeauftragten gehen möchte, sollte sich an den Betriebsarzt oder die Betriebsärztin wenden. Sie stehen unter Schweigepflicht und können viel bewegen. Jeder Betrieb ist verpflichtet, einen Betriebsarzt zu haben.
Betriebe müssen sich darauf einstellen, dass ihre Mitarbeitenden auch gesundheitliche Einschränkungen haben. Wir sehen einerseits, dass die meisten älteren Beschäftigten mit eingeschränkter Gesundheit ihre Arbeit rundum gut erledigen und auch keine erhöhten Fehlzeiten aufweisen. Aber manche benötigen früher oder später Hilfe, um die Arbeit gut zu schaffen. Oft helfen hier schon Kleinigkeiten, wie die ergonomische Anpassung des Arbeitsplatzes oder flexiblere Arbeitszeiten. Aber manchmal sind auch größere Maßnahmen erforderlich. Ein Erfolgsfaktor ist hier natürlich gute Führung.
Wir haben aber noch einen anderen Faktor identifiziert, wir nennen es die „betriebliche Gesundheitskultur“. Das meint, dass der Betrieb der Gesundheit der Beschäftigten einen hohen Wert beimisst. Ist das gegeben, bemerken Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen eine deutlich höhere Arbeitsfähigkeit.
Was kann die Politik tun, um Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen nachhaltig in der Erwerbstätigkeit zu halten?
Die Politik muss wissen, dass im höheren Erwerbsalter „Arbeiten mit Krankheit“ die Regel und nicht die Ausnahme darstellt. Die Kunst ist, es Menschen zu ermöglichen, trotz Krankheit gut und zufrieden bis zur Rente zu arbeiten. Ich stimme zu, dass Gesundheitsprävention während des gesamten Erwerbslebens wichtig ist, aber mindestens ebenso wichtig sind Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsfähigkeit. Dazu zählt auch wesentlich, dass die Arbeit gut gestaltet, gut eingerichtet ist. Nach unseren Berechnungen arbeiten etwa ein Drittel aller älteren Beschäftigten unter insgesamt schlechten Arbeitsbedingungen!
Politik und Betriebe müssen auch erkennen, dass sich heutzutage viele ältere Beschäftigte bis zur Rente trotz schlechter Gesundheit „durchbeißen“, weil sie sich einen frühen Ausstieg nicht leisten können. Oft gehören sie Berufsgruppen mit schwerer körperlicher Arbeit an. Für diese Menschen müssen Wege gefunden werden, dass sie in Würde rechtzeitig in den Ruhestand gehen können.
Die bisherigen Forschungsergebnisse zeigen ein Muster: Man kann hier so viel Gutes tun, aber es wird viel zu selten getan. Doch warum ist dies so? Die arbeitswissenschaftliche Forschung in Deutschland muss sich vermehrt dem Thema „Arbeiten mit Krankheit“ widmen. Wir müssen Politik und Betrieben helfen, Entscheidungen nicht nur aus dem Bauch heraus, sondern auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu treffen. Es geht hier um viel.
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Info I: Die lidA-Studie – leben in der Arbeit
Wie erleben ältere Beschäftigte ihre letzten Berufsjahre und wie den Übergang in den Ruhestand? Prof. Hasselhorn und sein Team nehmen genau das seit 2011 in der „lidA-Studie“ (leben in der Arbeit; https://arbeit.uni-wuppertal.de/de/) genau unter die Lupe. Mit der Studie begleiten die Forschenden zwei Jahrgänge der Babyboomer (geboren 1959 und 1965) auf ihrem Weg zum Ruhestand, führen mit ihnen immer wieder große Befragungen durch. Inzwischen ist auch der Jahrgang 1971 Teil der Studie. Die lidA-Studie hat ihren Fokus auf Arbeit, Gesundheit und Erwerbsteilhabe. Sie fragt nicht nur danach, wie lange ältere Beschäftigte arbeiten wollen und können, sondern auch, wie sie ihre alltägliche Arbeit schaffen. Inzwischen wird auch untersucht, wie es den Babyboomern im frühen Ruhestand geht.
Infos und Ergebnisse der lidA-Studie fasst das Team um Prof. Hasselhorn regelmäßig in kompakten, allgemeinverständlichen Broschüren zusammen. Diese stehen auf der Webseite www.lida-studie.de zum Download zur Verfügung. In einer der neuesten Ausgaben widmen sich die Forschenden dem Schwerpunkt „Arbeiten mit Krankheit jenseits der 50“ (https://arbeit.uni-wuppertal.de/fileadmin/arbeit/Brosch%C3%BCre_und_Flyer/lidA-B...)
Info II: Über die Jahrestagung
Die 65. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) findet vom 2. bis 5. April an der Bergischen Universität Wuppertal und online statt. Für den größten arbeitsmedizinischen Kongress im deutschsprachigen Raum übernimmt dieses Mal Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, die Schirmherrschaft. Jedes Jahr bringt die Tagung zahlreiche renommierte Forschende aus den Fachgebieten der Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin zusammen. 2025 tauschen sich die Besucher*innen unter anderem darüber aus, wie eine bessere Vernetzung zwischen der arbeitsmedizinischen Versorgung und anderen Sektoren im Gesundheitswesen, wie zum Beispiel Haus- und Fachärzt*innen, zum Wohle der Beschäftigten/Patient*innen und damit auch im Sinne der Betriebe und des Gesundheitssystems gelingen kann.
Das Programm und weiterführende Informationen gibt es auf der DGAUM-Webseite: www.dgaum.de
Prof. Dr. Hans Martin Hasselhorn
Lehrstuhl für Arbeitswissenschaften
Telefon 0202/439-2088
E-Mail hasselhorn@uni-wuppertal.de
https://arbeit.uni-wuppertal.de/de/ - Webseite lidA-Studie
https://arbeit.uni-wuppertal.de/fileadmin/arbeit/Brosch%C3%BCre_und_Flyer/lidA-B... - Broschüre Arbeiten mit Krankheit jenseits der 50
https://www.dgaum.de/dgaum-akademie/jahrestagung/ - Über die Jahrestagung
Prof. Dr. Hans Martin Hasselhorn
Friederike von Heyden
Bergische Universität Wuppertal
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Medizin
überregional
Forschungsprojekte, Kooperationen
Deutsch
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