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27.03.2025 15:43

Nach 7000 Jahren ohne Licht und Luft im Ostseeschlamm: Forschende erwecken prähistorische Alge wieder zum Leben

Dr. Kristin Beck Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde

    Ein Forschungsteam unter Federführung des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) konnte Ruhestadien einer Alge wiederbeleben, die vor fast 7000 Jahren zum Grund der Ostsee gesunken waren. Trotz jahrtausendelanger Inaktivität im Sediment ohne Licht und Sauerstoff erlangte die untersuchte Kieselalgenart ihre volle Lebensfähigkeit zurück. Die kürzlich im ISME-Fachjournal publizierte Studie wurde im Rahmen des durch die Leibniz-Gemeinschaft geförderten Verbundprojektes PHYTOARK durchgeführt, das mittels paläoökologischer Untersuchungen der Ostsee-Vergangenheit die Ostsee-Zukunft besser verstehen will.

    Viele Lebewesen, angefangen bei Bakterien bis hin zu Säugetieren, können in eine Art „Schlafmodus“ übergehen, die sogenannte Dormanz, um Perioden ungünstiger Umweltbedingungen zu überleben. Dabei wechseln sie in einen Zustand reduzierter Stoffwechselaktivität und bilden dabei oft spezielle Dauerstadien mit stabilen Schutzhüllen und eingelagerten Energiereserven. Dies gilt auch für das Phytoplankton, mikroskopisch kleine Pflanzen, die im Wasser leben und Photosynthese betreiben. Ihre Dauerstadien sinken auf den Grund von Gewässern herab und werden dort im Lauf der Zeit von Sediment überlagert und unter Luftabschluss konserviert.

    „Solche Ablagerungen sind wie eine Zeitkapsel mit wertvollen Informationen über vergangene Ökosysteme mit ihren Lebensgemeinschaften, deren Populationsentwicklung und genetischen Veränderungen“, erläutert Sarah Bolius. Die IOW-Phytoplanktonexpertin ist Erstautorin der kürzlich im ISME Journal erschienenen Publikation zur Studie, bei der Sedimentkerne aus der Ostsee gezielt auf keimungsfähige Phytoplankton-Dauerstadien aus der Vergangenheit untersucht wurden. „Dieses Vorgehen trägt den ungewöhnlichen Namen ‚Auferstehungsökologie‘ – nach dem englischen Fachbegriff ‚Resurrection Ecology‘: Ruhestadien, die sich durch die klare Schichtung des Ostseesediments eindeutig bestimmten Perioden der Ostseegeschichte zuordnen lassen, sollen unter günstigen Bedingungen zu neuem Leben erweckt, genetisch und physiologisch charakterisiert und mit heutigen Phytoplanktonpopulationen verglichen werden“, so Bolius weiter. Durch Analyse anderer Sedimentbestandteile werden zusätzlich Rückschlüsse über frühere Salzgehalte, Sauerstoff- und Temperaturverhältnisse möglich. „Unser Ziel ist, durch Zusammenführung all dieser Informationen die genetischen wie funktionellen Anpassung des Ostsee-Phytoplanktons an Umweltveränderungen besser zu verstehen“, erklärt die Meeresforscherin den wissenschaftlichen Ansatz der Studie.

    Alte Gene, stabile Funktionen

    Das Team um Sarah Bolius, an dem neben IOW-Expert:innen auch Forschende der Universitäten Rostock und Konstanz beteiligt waren, untersuchte Sedimentkerne, die 2021 bei einer Expedition mit dem Forschungsschiff Elisabeth Mann Borgese aus 240 Metern Wassertiefe im Östlichen Gotlandtief gewonnen wurden. Aus neun Proben konnten nach Aufbereitung im Labor bei günstigen Nährstoff- und Lichtverhältnissen überlebensfähige Algen aus der Dormanz erweckt und einzelne Stämme isoliert werden. Diese Proben stammen aus verschiedenen Sedimentschichten, die eine Zeitspanne von rund 7000 Jahren und damit die wichtigsten Klimaphasen der Ostsee repräsentieren.

    Die Kieselalgenart Skeletonema marinoi war die einzige Phytoplanktonart, die aus allen Proben wieder erwachte. Sie ist in der Ostsee weit verbreitet und tritt typischerweise während der Frühjahrsblüte auf. Die älteste Probe mit lebensfähigen Zellen dieser Art wurde auf ein Alter von 6871 ± 140 Jahren datiert. „Erstaunlich ist, dass die wiedererweckten Algen nicht nur ‚grade so‘ überlebt, sondern offenbar auch ihre ‚Fitness‘, also ihr biologisches Leistungsvermögen, nicht eingebüßt haben: Sie wachsen, teilen sich und betreiben Photosynthese wie ihre modernen Nachfahren“, betont Sarah Bolius. Das treffe auch auf die Zellen aus der rund 7000 Jahre alten Sedimentschicht zu, die sich in der Kultivierung mit einer mittleren Wachstumsrate von rund 0,31 Zellteilungen pro Tag stabil erwiesen hätten – ein Wert, der mit Wachstumsraten heutiger Skeletonema marinoi-Stämme vergleichbar sei, so Bolius. Die Messung der Photosyntheseleistung zeigte zudem, dass selbst die ältesten Algen-Isolate noch aktiv Sauerstoff produzieren können – mit Werten von durchschnittlich 184 Mikromol Sauerstoff pro Milligramm Chlorophyll und Stunde. „Auch das sind Werte, die denen von jetzigen Vertretern dieser Art sehr ähnlich sind“, sagt die Algenexpertin.

    Die Forschenden bestimmten außerdem die genetischen Profile der wiederbelebten Algen mittels Mikrosatellitenanalyse – einer Methode, bei der bestimmte kurze DNA-Abschnitte verglichen werden. Ergebnis: Die Proben aus verschieden alten Sedimentschichte bildeten genetisch unterschiedliche Gruppen. Damit konnte zum einen ausgeschlossen werden, dass es bei der Kultivierung der Stämme aus unterschiedlich alten Sedimentschichten zu Verunreinigungen gekommen sein könnte. Zum anderen belegt dies, dass sich aufeinanderfolgende Populationen von Skeletonema marinoi in der Ostsee über die Jahrtausende genetisch verändert haben.

    Dormanz als Überlebensstrategie – und als Basis für ein spannendes Forschungstool

    Das Phänomen, dass Organismen als Dauerstadien über sehr lange Zeiträume hinweg überleben und damit potenziell Lebensräume bei passenden Bedingungen wiederbesiedeln können, ist auch aus anderen Studien bekannt – etwa bei Pflanzensamen oder Kleinkrebsen, die teils mehrere Jahrhunderte, ja auch Jahrtausende lebensfähig bleiben. Eine erfolgreiche Wiederbelebung eines Dauerstadiums nach so langer Zeit, wie im Fall von Skeletonema marinoi ist bislang jedoch kaum belegt. Mit rund 7000 Jahren gehören die winzigen Zellen dieser Kieselalge zu den ältesten Organismen, die aus einem intakten Dauerstadium erfolgreich wiederbelebt wurden. Aus Gewässersedimenten sind keine älteren derartigen Fälle bekannt.

    „Dass wir tatsächlich so alte Algen-Dauerstadien erfolgreich aus der Dormanz reaktivieren konnten, ist ein erster wichtiger Schritt bei der Weiterentwicklung des Werkzeugs ‚Resurrection Ecology‘ in der Ostsee. Damit werden jetzt im Labor quasi ‚Zeitsprung-Experimente‘ in verschiedene Stadien der Ostseeentwicklung möglich“, sagt Sarah Bolius. Und so sollen die wiederbelebten Algenstämme zukünftig weiter unter unterschiedlichen Bedingungen getestet werden. „Unsere Studie zeigt außerdem, dass wir genetische Veränderungen über viele Jahrtausende hinweg direkt nachzuvollziehen können – und das mit lebenden Zellen statt nur mit Fossilien oder DNA-Spuren,“ resümiert die Wissenschaftlerin. Weitere genetische Analysen der reaktivierten Algenstämme sollen dazu beitragen, die Ursachen dieser genetischen Veränderungen besser zu verstehen.

    Zukunft verstehen durch Zeitreise in die Vergangenheit

    Durchgeführt wurde die aktuelle Studie im Rahmen des Verbundprojektes PHYTOARK, das im Rahmen der Förderlinie „Kooperative Exzellenz“ von der Leibniz-Gemeinschaft gefördert und am IOW durch Anke Kremp, Leiterin der Arbeitsgruppe Phytoplanktonökologie, koordiniert wird. Beteiligt sind neun weitere Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Finnland, Schweden und den USA. Ziel ist es, mit Hilfe neuester Methoden der Paläoökologie und Biodiversitätsforschung bis zu 8000 Jahre zurückzuschauen und durch natürliche Klimaschwankungen bedingte Veränderungen des Ostsee-Phytoplanktons zu rekonstruieren. Dieser Blick in die Vergangenheit soll helfen, zukünftige Klimawandelfolgen in der Ostsee besser abzuschätzen. Mehr Information: https://phytoark.com

    Kontakt IOW-Presse- und Öffentlichkeitsarbeit:
    Dr. Kristin Beck | Tel.: 0381 – 5197 135 | presse@io-warnemuende.de

    Das IOW ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, zu der aktuell 96 eigenständige Forschungseinrichtungen gehören. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Bund und Länder fördern die Institute gemeinsam. Insgesamt beschäftigen die Leibniz-Institute etwa 21.400 Personen, davon sind ca. 12.170 Forschende. Der Gesamtetat der Institute liegt bei 2,3 Mrd. Euro. http://www.leibniz-gemeinschaft.de


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Sarah Bolius | Tel.: +49 381 5197 3472 | E-Mail: sarah.bolius@io-warnemuende.de


    Originalpublikation:

    Bolius, S., Schmidt, A., Kaiser, J., Arz, H.W., Dellwig, O., Karsten, U., Epp, L.S., Kremp, A. (2025). Resurrection of a diatom after 7000 years from anoxic Baltic Sea sediment. The ISME Journal, 19(1), wrae252. https://doi.org/10.1093/ismejo/wrae252


    Bilder

    Enfaltete selbst nach rund 7000 Jahren ohne Licht und Luft im Ostseesediment wieder volle Lebensaktivität: Die Kieselalge Skeletonema marinoi.
    Enfaltete selbst nach rund 7000 Jahren ohne Licht und Luft im Ostseesediment wieder volle Lebensakti ...
    S. Bolius
    IOW

    Die IOW-Phytoplanktonexpertin Sarah Bolius erweckte die Kieselalgenart Skeletonema marinoi nach jahrtausendelanger Ruhe aus dem Ostseesediment und untersuchte sie im Labor.
    Die IOW-Phytoplanktonexpertin Sarah Bolius erweckte die Kieselalgenart Skeletonema marinoi nach jahr ...
    K. Beck
    IOW


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
    Biologie, Geowissenschaften, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Enfaltete selbst nach rund 7000 Jahren ohne Licht und Luft im Ostseesediment wieder volle Lebensaktivität: Die Kieselalge Skeletonema marinoi.


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    Die IOW-Phytoplanktonexpertin Sarah Bolius erweckte die Kieselalgenart Skeletonema marinoi nach jahrtausendelanger Ruhe aus dem Ostseesediment und untersuchte sie im Labor.


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