Prof. Dr. Dr. Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg. Vor Kurzem hat er ein Buch über Geschichte, Verfassung und Politik des Vatikans verfasst. Im Interview erklärt er, was den Vatikan von anderen Kleinstaaten unterscheidet, welche Vor- und Nachteile sich daraus ergeben und wie der verstorbene Papst Franziskus seine Rolle als Staatsoberhaupt gesehen hat.
Als einzige Religionsgemeinschaft der Welt hat die katholische Kirche einen eigenen Staat …
Ernesti: Ja, das ist richtig. Die Päpste haben seit bald 1300 Jahren ihren eigenen Staat. Ein Papst ist also zum einen Oberhaupt der katholischen Kirche, mit 1,4 Milliarden Mitgliedern der größten Religionsgemeinschaft auf der Welt. Andererseits ist er zugleich Staatsoberhaupt des sogenannten Staates der Vatikanstadt. Dieser ist übrigens der kleinste Staat der Welt, mit gerade einmal 44 Hektar Größe.
Wer gehört zum Staatsvolk?
Ernesti: Dieser Staat hat so manche Eigenheiten, und die Bevölkerung ist eine davon. Für die meisten normalen Staaten gilt entweder das Ius soli (man wird Staatsbürger, weil man in dem betreffenden Land geboren wird) oder das Ius sanguinis (man wird Staatsbürger, weil die Eltern Bürger dieses Staates sind). Beim Vatikan ist es anders. Die Staatsbürgerschaft haben all jene, die im Vatikan arbeiten – und nur für die Zeit ihrer Beschäftigung. Auch die Kardinäle und Nuntien (die päpstlichen Botschafter in aller Welt) sind vatikanische Staatsbürger. Normalerweise behält man die ursprüngliche Staatsbürgerschaft. Benedikt XVI. zum Beispiel ist Deutscher geblieben, Papst Franziskus Argentinier.
Welche wichtigen historischen Etappen gab es in der Entwicklung des Staates bis zu seiner heutigen Form?
Ernesti: Ins Leben gerufen wurde der alte Kirchenstaat im Jahr 754 durch die sogenannte Pippinische Schenkung. Unter Karl dem Großen und im Verlauf des Mittelalters wurde der Staat weiter vergrößert und bildete einen Keil über die italienische Halbinsel. Zuletzt war er etwa so groß wie die heutigen Niederlande. 1870 wurde dieser Staat von der italienischen Einheitsbewegung besiegt und Teil des Königreiches Italien. In Verhandlungen mit dem Diktator Mussolini wurde der Staat als Miniaturstaat 1929 neu gegründet.
Was unterscheidet den „Staat der Vatikanstadt“ von anderen Kleinstaaten?
Ernesti: Das ist sicher zum einen die Verfassungsform. Der Staat der Vatikanstadt ist eine Wahlmonarchie, die letzte, die es in der Welt gibt. Ansonsten hat dieser Staat aber alles, was einen Staat normalerweise ausmacht: Neben einem Staatsvolk und einem Territorium eine eigene Währung (den Euro), ein Postwesen, eine Flagge, eine Nationalhymne usw. Dieser Staat hat sogar eine eigene Armee: Die 1506 gegründete Schweizergarde ist zugleich die älteste und mit 138 Soldaten die kleinste Armee der Welt.
Welche Vor- und Nachteile ergeben sich daraus?
Ernesti: Leider sieht das Grundgesetz dieses Staates keine Gewaltenteilung vor. Der Papst ist ein absoluter Monarch. Das ist sicher auch ein entscheidender Grund, warum es immer wieder zu Skandalen kam, vor allem im Bereich der Finanzverwaltung. Bis zu Papst Franziskus ist dieser Staat auch eine exklusive Männerwirtschaft gewesen. Der verstorbene Papst hat dieses Manko erkannt und zentrale Posten mit Frauen besetzt. An der Spitze der Vatikanischen Museen (eine der wichtigsten Sammlungen der Welt und zugleich die Haupteinnahmequelle des kleinen Staates) steht schon seit Jahren eine Kunsthistorikerin. Noch kurz vor seiner Erkrankung hat Papst Franziskus für den Staat eine „Regierungschefin“ ernannt. Insgesamt ist im Vatikan aber noch viel Luft nach oben, was die Position der Frauen angeht.
Wie hat Papst Franziskus seine Rolle als Staatsoberhaupt gesehen?
Ernesti: Ich denke, bei Papst Franziskus haben wir es mit einem ausgesprochen politischen Papst zu tun. Sicher war seine Rolle nicht auf die Regierung des vatikanischen Zwergstaates beschränkt. Heute hat der Heilige Stuhl ja diplomatische Beziehungen zu 180 Staaten und ist Beobachter oder Mitglied in den großen Weltorganisationen wie der UNO, der EU oder der Arabischen Liga. Papst Franziskus hat diese Position für meine Begriffe sehr geschickt genutzt, um die zentralen Anliegen der vatikanischen Außenpolitik stark zu machen: den Frieden, die Religionsfreiheit, die internationale Gerechtigkeit, den Kampf gegen den Klimawandel.
Hat er auf diesem Gebiet mehr Erfolge oder Misserfolge erzielt?
Ernesti: Ich würde sagen, es hat beides gegeben. Ein großartiger Erfolg war sicher die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Kuba und den USA im Jahr 2014, die durch vatikanische Vermittlung und persönlichen Einsatz des Papstes zustande gekommen ist. Im Ukrainekrieg ist er aus unterschiedlichen Gründen als Vermittler nicht ins Spiel gekommen, die vatikanische Diplomatie hat aber immerhin die Rückführung von entführten Kindern in die Ukraine vermitteln können. Von der israelischen Regierung ist er zuletzt kritisiert worden, weil er eindrücklich auf das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen hingewiesen hat. Man wird ihm sicher nicht vorwerfen können, dass er nicht zugleich die Terrorakte gegen israelische Zivilisten verurteilt hätte.
Würden Sie in ihm er einen Reformer oder einen Bewahrer sehen?
Ernesti: Schon eher Ersteres. Aber er hat seine Reformen nicht mit der Brechstange durchgesetzt, sondern indem er einen Dialog in Gang gebracht hat. Das gilt zum Beispiel für das Gebiet der Sexualethik, das jahrzehntelang ziemlich vermint war. Er war auch ein Mann von einer großen Führungserfahrung, der hervorragende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um sich gesammelt hat. Die vatikanische Zentralregierung, die Kurie, ist derzeit so gut aufgestellt wie lange nicht. Insofern ist es auch schwer zu sagen, wer ihm nachfolgen könnte. Es gibt viele gute Kandidaten, die seiner Agenda verpflichtet sind.
Buch: Ernesti, Jörg: Der Vatikan. C.H.Beck, München 2025, ISBN: 978-3-406-82930-7.
Prof. Dr. Dr. Jörg Ernesti
Professor für Kirchengeschichte (Mittlere und Neue)
Universität Augsburg
Telefon: 0821 598 - 5822
E-Mail: joerg.ernesti@kthf.uni-augsburg.de ()
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