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03.09.2004 08:25

"Verwirrspiel um Demonstrantenzahlen eindämmen"

Burckhard Wiebe Abteilung Kommunikation
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH

    "Verwirrspiel um Demonstrantenzahlen eindämmen"

    Protestforscher Dieter Rucht fordert ein Ende der politischen Zahlenspiele

    (Berlin) Mit den seit Wochen anhaltenden Protesten gegen Hartz IV ist auch ein Streit um die Zahl der Demonstranten entbrannt. Die Angaben, wieviele Menschen sich an den Montagsdemonstrationen beteiligen, widersprechen sich zum Teil erheblich. Während die einen vom "Abebben" der Protestwelle sprechen, verkünden andere einen Zuwachs an Demonstranten. Dieter Rucht, Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), fordert jetzt ein Ende dieser Zahlenspiele. "Es könnten Zählverfahren angewendet werden, um diesen politisch motivierten Schätzungen entgegen zu wirken", fordert er. Im folgenden legt er außerdem dar, dass das "interessegeleitete Verwirrspiel um Demonstrantenzahlen" nicht neu ist.

    "Die Zahl der Demonstranten gegen Hartz IV, so war letzte Woche in den meisten Medien zu lesen oder zu hören, sei gegenüber der Vorwoche "deutlich" zurückgegangen. Waren bei den Montagsdemos der Vorwoche noch rund 90.000 Menschen auf den Beinen, so seien es am folgenden Montag "nur noch rund 70.000" gewesen. Dagegen ist auf der Website von ATTAC über dieselben Demos zu lesen: "In mindestens 145 Städten haben nach bisherigen Angaben zwischen 130.000 bis 180.000 Menschen demonstriert. Damit wurde die Zahl der Vorwoche übertroffen; von einem 'Abebben' der Protestwelle kann keine Rede sein." Wer wem Glauben schenkt, ist nicht unwichtig, wird doch die Beteiligung vieler Menschen an künftigen Protesten auch davon abhängen, ob man die gegenwärtige Protestwelle im Aufwind oder Abwind wähnt. Auch haben solche Wahrnehmungen einen Einfluss darauf, ob sich politische Entscheidungsträger zum Handeln gedrängt fühlen oder meinen, den Protest aussitzen zu können. Die manchen lächerlich anmutenden Zahlenspiele sind also folgenreich und werden deshalb munter weitergespielt.

    Es ist kein neues Spiel. Sprachen die Veranstalter einer großen Berliner Wahlrechtsdemonstration am 6. März 1910 von bis zu 30.000 Teilnehmern, so konterte der damalige Polizeipräsident von Jagow: "...durch sorgfältige Nachprüfungen...hat sich jedoch ergeben, dass die Zahl der Demonstranten damals nur 2.000 betrug." Und über die Demonstrationen am 1. Mai 1987 in Berlin heißt es in "Bild": "50 000 Besucher...schätzte DGB-Landeschef Michael Pagels - andere Beobachter schätzten 20 000. Die Polizei durfte diesmal die Mai-Marschierer nicht zählen, weil sich Pagels letztes Jahr über zu geringe Zahlen beschwert hatte..."

    Das Muster ist klar und lässt sich für Hunderte von Demonstrationen nachzeichnen: Die Polizei setzt niedrige Zahlen, der Veranstalter setzt hohe Zahlen an. Die Wahrheit liegt häufig, aber keineswegs immer, irgendwo dazwischen. Daraus ließe sich die Faustregel ableiten, die Medien, über die Demonstrationen erst dem großen Publikum bekannt werden, sollten einfach den Mittelwert zwischen den widersprüchlichen Angaben von Polizei und Veranstaltern heranziehen. So wird es übrigens in einem von mir geleiteten Forschungsprojekt gehandhabt, in dem Proteste in Deutschland seit 1950 dokumentiert werden. Doch soll diese aus pragmatischen Gründen eingeführte Regel auch auf Proteste angewendet werden, die heute stattfinden und bei denen Scharen von Journalisten und Kameraleuten zugegen sind? Die Antwort heißt nein. Zum ersten würde die Mechanik eines solchen Verfahrens dazu führen, dass Polizei und Veranstalter bei vielen Protesten ihre Zahlen immer weiter nach unten bzw. nach oben trieben, um den Mittelwert im eigenen Sinne zu beeinflussen. Zum zweiten ist nicht anzunehmen, dass die Medien dieses Verfahren übernehmen würden, wird doch ihre Berichterstattung von der eigenen redak-tionellen Linie beeinflusst. So ist es sicher kein Zufall, dass beispielsweise die FAZ bei linkslastigen Protesten eher mit geringen Zahlen, die taz dagegen eher mit hohen Zahlen operiert.

    Die voneinander abweichenden Zahlen lehren, dass Zahlen zählen: Sie sind ein Politikum. Dass derartige Zahlen zudem so weit auseinander liegen können, zeigt weiterhin, wie nötig kontrollierte Schätzungen wären. In Washington, D.C. wurde nach wiederholten und scharfen Auseinandersetzungen über den Umfang von Großdemonstrationen ein relativ genaues Messverfahren anhand von Luftbildern eingeführt. Es hat sich im Großen und Ganzen bewährt. Auch für kleinere Demonstrationen ließen sich - ohne gleich auf Luftbilder zurückzugreifen - Verfahren anwenden, die politisch motivierten "Schätzungen" entgegenwirken könnten. Eine Lösung könnte darin bestehen, eine kleine Gruppe, bei-spielsweise bestehend aus einem Vertreter der Polizei, der Veranstalter und ein oder zwei unabhängigen Beobachtern, eine Zählung oder Schätzung vornehmen zu lassen. Es ist an der Zeit, das seit mindestens 100 Jahren währende interessegeleitete Verwirrspiel um Demonstrantenzahlen einzudämmen. Dann ließe sich auch die einfache Frage entscheiden, ob die Protestbewegung gegen Hartz IV in den beiden letzten Wochen zu- oder abgenommen hat."

    Pressekontakt:
    Prof. Dieter Rucht, Tel. 030/25491-306, Email: rucht@wz-berlin.de,
    Claudia Roth, Pressereferat, Tel.: 030/25491-510, Email: roth@wz-berlin.de


    Weitere Informationen:

    http://www.wz-berlin.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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