Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Janine Fubel von der FernUni untersuchte das Ende des KZ Sachsenhausen. Tausende Gefangene überlebten diese Zeit dort nicht.
Am 8. Mai vor 80 Jahren endete mit der vollumfänglichen deutschen Kapitulation der Zweite Weltkrieg gegen die Alliierten USA, Frankreich, Großbritannien und der damaligen Sowjetunion. Das Bundesland Berlin wird am 8. Mai an einem einmaligen „Feiertag“ den Ereignissen gedenken. Bereits 1943 begann sich das Scheitern der deutschen Armee abzuzeichnen. Vor dem Ende des Krieges schickte das NS-Regime tausende Menschen, oftmals Gefangene in den Konzentrationslagern (KZ), noch auf sogenannte Todesmärsche. Die Menschen wurden von den Wachmannschaften aus den KZ-Lagern brutal herausgetrieben, sie irrten tage-, teils wochenlang meist durch ländliche Gegenden ohne Essen und Trinken oder gar eine medizinische Versorgung. „Teilweise mussten die Gefangenen 30 Kilometer an einem Tag schaffen. Dieses Tempo konnten die meisten in ihrem körperlichen Zustand nicht durchhalten. Menschen, die nicht mehr laufen konnten, wurden sofort erschossen“, erklärt Janine Fubel.
Sie arbeitet im Lehrgebiet Public History der FernUniversität und untersuchte das Ende des Konzentrationslagers Sachsenhausen für ihre Dissertation. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte sie aktuell unter dem Titel „Krieg, Bewegung und extreme Gewalt. Die Auflösung des Konzentrationslagers Sachsenhausen 1945“ im Göttinger Wallstein-Verlag. „Bereits im Januar 1945 drohten erste Außenstandorte Sachsenhausens in Kriegshandlungen zu geraten. Im April ordneten dann regionale und lokale NS-Funktionäre Räumungsmaßnahmen an, die viele Menschen nicht überlebten.“
Dokumente in Archiven weltweit
Die Wissenschaftlerin ist in Brandenburg aufgewachsen. Schon als Kind fielen ihr die Erinnerungssteine zu den Todesmärschen auf. „Das Thema war für mich schon immer sehr präsent und mich begleitete früh die Frage, warum die Wachmannschaften die gewaltvollen Räumungen vollzogen, obwohl der Krieg – das lag im Frühjahr 1945 deutlich vor Augen – nicht mehr zu gewinnen war. In meiner Dissertation wollte ich untersuchen, was, wie, durch wen und warum in Sachsenhausen zu Kriegsende passiert ist.“ Dafür bewies sie einen langen Atem. Denn die meisten Dokumente wurden vom NS-Regime vernichtet. Sie besuchte eine Vielzahl an Archiven, davon sechs internationale unter anderem in Jerusalem, London, Washington und Moskau. „In Moskau musste ich besonders lange recherchieren. Mir war es nur erlaubt, fünf Akten pro Tag einzusehen. Dabei hatte ich einen Riesenberg an Materialien, die ich durchsehen wollte und zudem abschreiben musste – die Kopiergebühren in russischen Archiven sind sehr hoch.“
Gefangene lebten unter erbärmlichen Zuständen
Das Konzentrationslager Sachsenhausen war eines der zentralen Lager in der Zeit des Nationalsozialismus und befand sich in Oranienburg nahe Berlin. Heute befindet sich dort eine Gedenkstätte. „Ich wollte untersuchen, warum das Regime, obwohl es nichts mehr zu gewinnen gab, tausende Menschen verschleppte und erfahren, wer diese Gefangenen waren?“ Im KZ-System waren die meisten Personen 1944/45 jüdisch. Sie waren Frauen, Kinder und Männer auch aus besetzten Gebieten im heutigen Süd- und Osteuropa. Dennoch wurden nicht nur jüdische Menschen unter grausamen Bedingungen in den Lagern gefangen gehalten. „Es war eine sehr heterogene Gruppe. Im Lager befanden sich auch deutsche Gefangene, zum Beispiel Kommunist:innen, Sozialdemokrat:innen, Gewerkschafter:innen oder Menschen mit einer Kriminalakte, hinzu kamen Kriegsgefangene, Zwansgarbeiter:innen oder Polizist:innen aus besetzten Gebieten und weitere Menschen, die vom NS-Regime willkürlich als nicht loyal angesehen wurden“, sagt Fubel. Die Gefangenen lebten unter katastrophalen Zuständen und waren durch die Zwangsarbeit für die deutsche Rüstung mehrheitlich körperlich sehr angeschlagen und schwer krank.
NS-Regime vernichtete Beweise
Für die Todesmärsche hatte das NS-Regime viele Gründe, die allesamt brutal und grausam waren. „Das Militär forderte die Räumung der Kriegsgebiete und das NS-Regime wollte die Gefangenen weiterhin für Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft ausbeuten, Heinrich Himmler sie gar als Geiseln gegen die Alliierten einsetzen. Darüber hinaus dienten die KZ-Räumungen dazu, Spuren zu verwischen und den Wachmannschaften auch, um nicht noch in den letzten Wochen und Tagen an die Front geschickt zu werden.“ Zusammen mit dem SS- und Polizeiführer in Berlin, August Heißmeyer, und den Gauleitern in Berlin, Josef Goebbels, und in Brandenburg, Emil Stürtz, waren die Befehle zur Räumung erfolgt. „Lokale Wachmannschaften verschleppten die Lagerinsass:innen daraufhin von der Front weg, vernichteten Beweise, bauten die Gaskammern ab und die Folterstätten zurück“, erklärt Fubel. Denn die Alliierten machten bereits 1943 deutlich, dass sie die Verbrechen des NS-Regimes ahnden würden. Zeug:innen der jahrelang erfolgten Verbrechen in den KZ-Lagern wurden getötet. „Deutsche oder deutschsprachige Inhaftierte waren gezwungen ihre Mitinsassen zu überwachen. Einige haben die schrecklichen Ereignisse heimlich dokumentiert.“
Zur Loyalität verpflichtet
Die Zeit vor dem Ende des Krieges war daher noch einmal brutaler als die Zeit zuvor. „Von ca. 700.000 Menschen im KZ-System überlebten 250.000 die Todesmärsche nicht. Das war ein Inferno. In so einer kleinen Zeitspanne sind in diesem Krieg noch nie so viele Menschen gestorben“, so Fubel. Dem NS-Regime waren die Schicksale der Gefangenen egal. „Es etablierte über Jahre einen Prozess der ‚Entmenschlichung‘. Die Gefangenen wurden nicht als Menschen gesehen und diese Sichtweise propagierten sie auch gegenüber der deutschen Bevölkerung.“ Die Wissenschaftlerin fand in Berichten von Anwohner:innen heraus, dass die deutsche Bevölkerung die Gefangenen bei den Todesmärschen gesehen hatte. „Sie hatten jedoch das Bild, dass es richtig sei, denn diese Menschen müssten ja irgendwas falsch gemacht haben“. Die Monate vor dem Ende des Krieges waren jedoch auch für die deutsche Bevölkerung mitunter eine sehr gefährliche Zeit – insbesondere in den ostdeutschen Gebieten. „Die Menschen vor Ort waren einem unglaublichen Loyalitätsdruck ausgesetzt. Sie wurden einerseits gezwungen, weiterzukämpfen und Ortschaften nicht zu übergeben und andererseits auch, die Gefangenen zu überwachen oder sich selbst an der brutalen Gewalt der Todesmärsche zu beteiligen – einige taten dies freiwillig. Niemand wollte mit den KZ-Häftlingen befasst sein, wenn die Rote Armee in den Ort einrückte.“
Menschen, die dem NS-Regime nicht mehr folgten oder Soldaten, die sich den Kampfhandlungen entzogen, wurden exekutiert. Tote Soldaten waren für alle sichtbar an Bäumen erhängt worden mit dem Schild „Ich war Deserteur“. Die Angst vor der Roten Armee war groß. Es war der deutschen Bevölkerung verboten, die weiße Flagge zu hissen oder zu kapitulieren.
Für ihre Studie arbeitete sich Janine Fubel durch viele vor allem frühere Berichte von Überlebenden. Hinzu kamen Berichte von Delegierten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, das 1945 vor Ort war. Sie sah Ermittlungen der Alliierten durch, las Tagebücher von deutschen Flüchtlingen, sichtete Fotografien, Militärdokumente und Luftaufnahmen, um eine Multiperspektivität zu erlangen. „Die Forschung zu Sachsenhausen war sehr spannend, aber auch intensiv“, sagt Fubel über ihre Ergebnisse.
Redaktion: Annemarie Alice Gonsiorczyk
Janine Fubel, janine.fubel@fernuni-hagen.de, https://www.fernuni-hagen.de/geschichte/lg4/
https://www.wallstein-open-library.de/9783835358393-krieg-bewegung-und-extreme-g...
Janine Fubel
Die Hoffotografen
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Geschichte / Archäologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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