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06.05.2025 13:22

Ein neuer Weg zu Extremereignissen wie epileptische Anfälle und Klimawandel

Dr. Inka Väth Kommunikation und Medien
Universitätsklinikum Bonn

    Das globale Klima ist in einer Schieflage. Potentielle „Kipppunkte“ sind etwa das grönländische Eisschild, Korallenriffe oder der Amazonas-Regenwald. Zusammen bilden sie ein Netzwerk, das einstürzen kann, wenn nur eine einzelne Komponente kippt. Bonner Forschende des Universitätsklinikums Bonn (UKB) und der Universität Bonn beleuchteten jetzt scheinbar plötzlich und selten auftretende, oft unumkehrbare Veränderungen innerhalb eines Systems, wie sie etwa im Klima, der Ökonomie, sozialen Netzwerken oder auch im menschlichen Gehirn beobachtet werden können. Dabei schauten sie sich als solche Extremereignisse unter anderem epileptische Anfälle genauer an.

    Ihr Ziel war es, Mechanismen besser zu verstehen, die solchen Veränderungen zugrunde liegen, um letztlich Vorhersagen zu ermöglichen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind nun in der Fachzeitschrift „Physical Review Research“ veröffentlicht.

    Unerwartete und oft unumkehrbare Veränderungen des Zustands oder der Dynamik eines komplexen Systems führen oft zu extremen Ereignissen mit wahrscheinlich katastrophalen Auswirkungen auf das System und seine Umwelt. „Das Verständnis und die mögliche Vorhersage solcher kritischen Übergänge sind daher von größter Bedeutung. Die bisher erzielten eher bescheidenen Erkenntnisse sind möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die bisherigen Forschungsansätze nur selten die komplizierten, zeitabhängigen Wechselwirkungen zwischen den Teilsystemen, die das den kritischen Übergängen zugrundeliegende Verhalten wesentlich bestimmen können, berücksichtigen“, sagt Korrespondenzautor Prof. Klaus Lehnertz, Arbeitsgruppenleiter der Neurophysik an der Klinik für Epileptologie des UKB, der auch am Interdisziplinären Zentrum für komplexe Systeme der Universität Bonn forscht.

    Wechselwirkungen in sich zeitlich entwickelnden Kipp-Subnetzwerken

    Im Gegensatz zu bisherigen Methoden, die entweder einzelne Systemelemente oder das Gesamtsystem in den Fokus der Untersuchung stellen, konzentrierten sich die Bonner Forschenden daher in ihrer Arbeit auf eine Zwischenebene – und identifizierten dabei eine strukturell und zeitlich zusammenhängende Teilstruktur in einem Netzwerk, das sogenannte „tipping subnetwork“. Das ist ein Teilnetzwerk innerhalb eines größeren, sich zeitlich ändernden Netzwerkes in dem die Elemente kollektiv eine Kipppunkt erreichen können. Zwar können einzelne Knoten und Verbindungen stabil sein, doch durch ihre Vernetzung mit anderen Elementen kann schon ein kleiner äußerer Schock oder ein allmählicher Wandel dazu führen, dass mehrere Knoten und Verbindungen gleichzeitig kippen. Denn in einem „tipping subnetwork“ sind die Elemente über Rückkopplungen miteinander verbunden. Ein „kippender Knoten“ oder eine „kippende Verbindung“ kann also den Druck auf andere erhöhen, was zum „Kippen“ des ganzen Subnetzwerks führt. „Das kippende Teilnetzwerk zeigt dabei eine besondere zeitliche Starrheit und Abgeschlossenheit gegenüber dem Gesamtnetzwerk – Eigenschaften, die das System offenbar besonders anfällig für extreme Zustandsänderungen macht“, sagt Erstautor Timo Bröhl, Doktorand der Universität Bonn und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe von Prof. Lehnertz am UKB.

    Solche Teilnetzwerke konnten die Bonner Forschenden sowohl in Simulationsmodellen als auch in der Hirnaktivität von Personen mit Epilepsie vor epileptischen Anfällen erstmalig nachweisen. Die Änderung der Einbindung dieser Netzwerkbausteine in das funktionelle Netzwerk untersuchten sie mittels lokaler Netzwerkmaße, die auf dem Konzept der Zentralität basieren. Zentralitätsmaße zielen darauf ab, die Wichtigkeit von Netzwerkbausteinen aus verschieden Perspektiven zu erfassen, um so eine ganzheitliche Einordnung bezüglich deren Einbindung in das Netzwerk zu erlauben. „Diese Systeme können wiederholt kritische Übergänge durchlaufen, die zu extremen Ereignissen führen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Kipp-Subnetzwerke Schlüsseleigenschaften von Mechanismen erfassen, die an kritischen Übergängen beteiligt sind“, sagt Bröhl. Dabei lässt sich aus Änderungen dieser Einbindung in das funktionelle Netzwerk wichtige Informationen zu bevorstehenden Extremereignissen gewinnen.

    Brücke zwischen Theorie und Praxis

    „Unsere Arbeit schlägt eine Brücke zwischen theoretischer Physik und klinischer Anwendung und leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung im Bereich komplexer Systeme und ihrer Dynamik, insbesondere in der Untersuchung von Extremereignissen und kritischen Übergängen“, sagt Bröhl und Prof. Lehnertz ergänzt: „Unsere Methodik eröffnet neue Möglichkeiten zur Entwicklung mathematischer und physikalischer Modelle und Methoden zur frühzeitigen Erkennung kritischer Übergänge – mit potenziellen Anwendungen in Medizin, Klimaforschung und darüber hinaus.“

    Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft und Verein zur Förderung der Epilepsieforschung e.V (Bonn)]

    Publikation: Timo Bröhl and Klaus Lehnertz: Emergence of a tipping subnetwork during a critical transition in networked systems: a new avenue to extreme events; Physical Review Research 7(2):023109 (2025); DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevResearch.7.023109

    Pressekontakt:
    Dr. Inka Väth
    stellv. Pressesprecherin am Universitätsklinikum Bonn (UKB)
    Stabsstelle Kommunikation und Medien am Universitätsklinikum Bonn
    Telefon: (+49) 228 287-10596
    E-Mail: inka.vaeth@ukbonn.de

    Zum Universitätsklinikum Bonn: Im UKB finden pro Jahr etwa 500.000 Behandlungen von Patient*innen statt, es sind ca. 9.500 Mitarbeiter*innen beschäftigt und die Bilanzsumme beträgt 1,8 Mrd. Euro. Neben den 3.500 Medizin- und Zahnmedizin-Studierenden werden pro Jahr 550 Personen in zahlreichen Gesundheitsberufen ausgebildet. Das UKB steht in der Focus-Klinikliste auf Platz 1 unter den Universitätsklinika (UK) in NRW, hatte in 2023 in der Forschung über 100 Mio. Drittmittel und weist den zweithöchsten Case Mix Index (Fallschweregrad) in Deutschland auf. Das F.A.Z.-Institut hat das UKB mit Platz 1 unter den Uniklinika in der Kategorie „Deutschlands Ausbildungs-Champions 2024“ ausgezeichnet.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Klaus Lehnertz
    Arbeitsgruppenleitung „Neurophysik“
    Klinik und Poliklinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn (UKB)
    Interdisziplinäres Zentrum für komplexe Systeme, Universität Bonn
    Telefon: (+49) 228 287-15864
    E-Mail: Klaus.Lehnertz@ukbonn.de

    Timo Bröhl
    Arbeitsgruppe „Neurophysik“
    Klinik für Epileptologie des UKB
    Telefon: (+49) 228 287- 19353
    E-Mail: timo.broehl@uni-bonn.de


    Originalpublikation:

    Timo Bröhl and Klaus Lehnertz: Emergence of a tipping subnetwork during a critical transition in networked systems: a new avenue to extreme events; Physical Review Research 7(2):023109 (2025); DOI: 10.1103/PhysRevResearch.7.023109


    Weitere Informationen:

    https://doi.org/10.1103/PhysRevResearch.7.023109 Publikation


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medizin, Meer / Klima, Physik / Astronomie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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