Forschende des CNRS Instituts für Kognitionswissenschaft der Université Claude Bernard in Lyon und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben erstmals verschiedene Typen von Mutter-Kind-Bindungen bei freilebenden Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste identifiziert. Die Studie zieht Parallelen zur menschlichen Psychologie und liefert überzeugende Belege dafür, dass junge Schimpansen - ähnlich wie menschliche Kinder - sichere und unsicher-vermeidende Bindungsmuster zu ihren Müttern entwickeln.Im Gegensatz zu Menschen und einigen in menschlicher Obhut lebenden Schimpansen zeigen freilebende Schimpansen jedoch keine desorganisierten Bindungen.
Auf den Punkt gebracht
- Mutter-Kind-Bindung in freier Wildbahn: Freilebende Schimpansen entwickeln sichere oder unsicher-vermeidende Bindungen zu ihren Müttern, aber keine desorganisierten Bindungen, was darauf hindeutet, dass dies in freier Wildbahn keine geeignete Überlebensstrategie ist.
- Bindungstypen: Schimpansen mit einer sicheren Bindung sind selbstsicher, während Schimpansen mit einer unsicher-vermeidenden Bindung unabhängiger sind. Desorganisierte Bindung, die bei Menschen und Schimpansen in menschlicher Obhut häufig vorkommt, wird mit emotionalen und psychischen Problemen in Verbindung gebracht.
- Kindererziehung beim Menschen: Ein besseres Verständnis dafür, wie das Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, Bindungsmuster beeinflusst und wie frühe Lebenserfahrungen die soziale und emotionale Entwicklung prägen können, hilft möglicherweise dabei, effektivere Erziehungsstrategien zu entwickeln.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie die Beziehung zu Ihren Eltern in Ihrer Kindheit Sie zu dem Menschen gemacht hat, der Sie heute sind? Forschende wissen seit langem, dass die frühe Bindung an Bezugspersonen eine entscheidende Rolle in der menschlichen Entwicklung spielt, aber wie sieht es bei einem unserer nächsten Verwandten aus, dem Schimpansen?
Indem sie das Verhalten von freilebenden Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste über einen Zeitraum von vier Jahren beobachteten, fanden Forschende heraus, dass junge Schimpansen, genau wie Menschenkinder, verschiedene Typen von Bindungen zu ihren Müttern entwickeln. Einige fühlen sich sicher, verlassen sich in Zeiten der Not auf ihre Mutter und erkunden selbstbewusst ihre Umgebung, weil sie wissen, dass die Mutter für sie da ist. Andere haben eine unsicher-vermeidende Bindung, was bedeutet, dass sie unabhängiger sind und nicht so sehr den Beistand der Mutter suchen. Im Gegensatz zu Menschen, bei denen 23,5 Prozent der Kinder eine desorganisierte Bindung haben, und in menschlicher Obhut lebenden Schimpansenwaisen, von denen 61 Prozent diesen Bindungstyp aufweisen, zeigen Schimpansen in freier Wildbahn keine Anzeichen desorganisierter Bindung.
Keine desorganisierte Bindung bei freilebenden Schimpansen
Beim Menschen entsteht eine desorganisierte Bindung, wenn ein Kind Angst, Trauma oder Aggression durch seine Bezugsperson erlebt. Als Folge kann das Kind widersprüchliche Verhaltensweisen zeigen, indem es Zuneigung sucht, aber auch Angst vor der Bezugsperson hat. Diese Art der Bindung kann zu Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation, der sozialen Integration und zu langfristigen psychischen Problemen führen. Eine desorganisierte Bindung gilt als maladaptiv bzw. schlecht angepasst, weil sie das Kind im Unklaren darüber lässt, wie es in Zeiten der Not reagieren soll. Das beeinträchtigt die Fähigkeit des Kindes zur effektiven Bewältigung der Notsituation und kann sein Überleben insgesamt gefährden.
In menschlicher Obhut lebende Schimpansen, insbesondere von Menschen aufgezogene Waisenkinder, entwickeln häufig desorganisierte Bindungen, wahrscheinlich aufgrund des Fehlens einer festen Bezugsperson. In freier Wildbahn hingegen, wo Schimpansen in stabilen Familienstrukturen aufwachsen und dem natürlichen Überlebensdruck durch Raubtiere ausgesetzt sind, fanden die Forschenden keine Hinweise auf desorganisierte Bindungen. „In freier Wildbahn haben wir keine Hinweise auf desorganisierte Bindungsmuster gefunden, was die Annahme unterstützt, dass diese Art der Bindung möglicherweise keine adaptive Überlebensstrategie gegenüber Umwelteinflüssen ist“, sagt Erstautorin Eléonore Rolland. Dies deutet darauf hin, dass es zwar gelegentlich zu desorganisierten Bindungen bei freilebenden Schimpansen kommen kann, diese Individuen aber wahrscheinlich nicht überleben oder sich fortpflanzen.
Kindererziehung beim Menschen neu betrachtet
Die Bindungstheorie ist ein Schlüsselkonzept in der Psychologie, das erklärt, wie frühe Beziehungen die emotionale und soziale Entwicklung eines Menschen beeinflussen. Eine sichere Bindung ist mit Selbstvertrauen und Resilienz verbunden, während eine unsichere und desorganisierte Bindung zu Angst, Stress oder Beziehungsschwierigkeiten führen kann. Die Tatsache, dass Schimpansen in freier Wildbahn nur sichere oder unsicher-vermeidende Bindungen zeigen, wirft neue Fragen über die Kindererziehung beim Menschen auf. „Die Ergebnisse unserer Studie erweitern unser Wissen über die soziale Evolution bei Schimpansen und zeigen, dass Menschen und Schimpansen gar nicht so verschieden sind“, sagt Eléonore Rolland. „Sie geben uns aber auch zu denken: Haben sich einige menschliche Institutionen oder Betreuungspraktiken möglicherweise von dem entfernt, was für die Entwicklung von Kleinkindern am besten ist?“
Einblicke in die Ursprünge menschlichen Sozialverhaltens
„Durch die Identifizierung von Bindungsmustern bei freilebenden Schimpansen gewinnen wir wichtige Erkenntnisse über die Ursprünge des menschlichen Sozialverhaltens“, sagt Roman Wittig, leitender Autor und Leiter des Taï Chimpanzee Project. Die Studie schlägt eine Brücke zwischen Psychologie, Tierverhalten und Anthropologie und erklärt, wie sich Bindungsstrategien über Artgrenzen hinweg entwickelt haben könnten. Catherine Crockford, leitende Autorin und Forschungsgruppenleiterin an der Université Claude Bernard Lyon1, fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Bindungsstrategien bei Primaten ein gemeinsames evolutionäres Erbe widerspiegeln könnten. Die hohe Prävalenz desorganisierter Bindungen bei Menschen und Schimpansenwaisen in menschlicher Obhut im Gegensatz zu freilebenden Schimpansen unterstützt zudem die Annahme, dass das Umfeld während des Aufwachsens eine wichtige Rolle bei der Ausprägung von Bindungstypen spielt.“
Diese Erkenntnisse helfen uns, Schimpansen und Menschen besser zu verstehen, und regen zum Nachdenken darüber an, wie frühe Lebenserfahrungen die soziale und emotionale Entwicklung verschiedener Spezies beeinflussen können.
Dr. Eléonore Rolland
CNRS Institut für Kognitionswissenschaften Marc Jeannerod, Lyon &
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
eleonore_rolland@eva.mpg.de
Dr. Catherine Crockford
CNRS Institut für Kognitionswissenschaften Marc Jeannerod, Lyon &
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
crockfor@eva.mpg.de
Dr. Roman Wittig
CNRS Institut für Kognitionswissenschaften Marc Jeannerod, Lyon &
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
wittig@eva.mpg.de
Eléonore Rolland, Oscar Nodé-Langlois, Patrick J. Tkaczynski, Cédric Girard-Buttoz, Holly Rayson, Catherine Crockford, Roman M. Wittig
Evidence of organized but not disorganized attachment in wild Western chimpanzee offspring (Pan troglodytes verus)
Nature Human Behaviour, 12 May 2025, https://doi.org/10.1038/s41562-025-02176-8
Schimpansemutter (Xela) stillt ihren Nachwuchs (Xort). Ein Forschungsteam hat erstmals verschiedene ...
© Liran Samuni, Taï Chimpanzee Project
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© Liran Samuni, Taï Chimpanzee Project
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Psychologie, Tier / Land / Forst
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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