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02.06.2025 12:14

Plastic Credits können Plastikproblem verschlimmern

Roland Koch Kommunikation und Medien
Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

    Die Welt produziert jedes Jahr über 460 Milionen Tonnen Plastik. Ein Ansatz, der derzeit als Ausweg aus der Krise beworben wird, sind so genannte Plastic Credits. Um ihre Plastikproduktion auszugleichen, können Konzerne Gutschriften von Organisationen erwerben und damit Projekte finanzieren, die Plastik einsammeln. Ein internationales Expertenteam unter der Leitung von Sangcheol Moon von der University of California Berkeley, dem auch Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut angehört, zeigt in der Zeitschrift One Earth, dass Kompensationsprogramme wie diese Plastic Credits jedoch weit davon entfernt sind, eine Lösung zu sein. Im Gegenteil: Sie könnten die Krise sogar verschlimmern.

    Das Wichtigste in Kürze:

    • Plastic Credits können bekannte Fallstricke reproduzieren. So könnten beispielsweise Aktivitäten, bei denen Plastik eingesammelt wird und die ohnehin stattgefunden hätten, finanziert werden. Die Menge des eingesammelten Plastiks würde durch die Gutschrift nicht größer und die Verschmutzung durch den Käufer würde dadurch nicht wirklich ausgeglichen („Additionality). Zudem wird der Plastikmüll nicht zwangsläufig dauerhaft aus der Umwelt entfernt („Permanence“) und es fehlen Vorkehrungen zum Schutz lokaler Gemeinden und Ökosysteme (No-harm-Prinzip).
    • Die „Tonne für Tonne“-Logik wird der materiellen, toxikologischen und kontextuellen Komplexität der Plastikverschmutzung nicht gerecht.
    • Werden Plastic Credits als Maßnahme in die erweiterte Herstellerverantwortung aufgenommen, können dadurch andere politische Maßnahmen weniger wirksam werden, wie etwa Preissignale, die Hersteller dahin lenken, Produkte nachhaltig zu gestalten.

    Derzeit versuchen Länder weltweit, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Kunststoffverschmutzung zu bekämpfen. Als potenzielles Instrument haben sogenannte Plastic Credits hier an Bedeutung gewonnen. „In der Regel werden diese Gutschriften für jede Tonne Plastik vergeben, die aus der Umwelt oder dem Abfallstrom zurückgewonnen wird“, erklärt Dr. Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), und Koautorin der Studie. Die AWI-Biologin ist gemeinsam mit anderen Autoren Teil der „Scientists Coalition for an Effective Plastics Treaty“. Das internationale Netzwerk unabhängiger Experten unterstützt die Verhandlungen der Vereinten Nationen über ein verbindliches Abkommen zur Begrenzung der Plastikverschmutzung. „Während der Verhandlungen wurden Plastic Credits als eine neue Finanzierungs- und Kontrollmaßnahme beworben“, sagt Melanie Bergmann. „Unser von Fachleuten begutachteter Artikel zeigt jedoch, dass solche Gutschriften kein geeigneter Ansatz sind, um die Plastikverschmutzung zu verringern oder Maßnahmen zur Reduzierung zu finanzieren.“ Schlimmer noch: Sie können Schlupflöcher schaffen und somit Maßnahmen zur Reduzierung von Plastikmengen untergraben. Denn sie ermöglichen ein „Weiter so“ bei der Plastikproduktion, die sich bis 2060 wahrscheinlich verdreifachen wird. Die damit verbundenen Treibhausgasemissionen könnten von aktuell 5,3 Prozent der jährlichen CO2-Emissionen auf 30 Prozent des verbleibenden Budgets bis 2030 ansteigen.

    „Plastic Credits sind eine fehlgeleitete Lösung, die Greenwashing ermöglichen und gleichzeitig Transparenz und Verantwortlichkeit umgehen können“, sagt Prof. Andrea Bonisoli-Alquati, assoziierter Professor für Umwelttoxikologie an der California State Polytechnic University, Pomona, und Koautor des Artikels. „Wenn wir die Plastikverschmutzung ernsthaft beenden wollen, dürfen wir nicht länger so tun, als könnten wir den Schaden ausgleichen. Stattdessen müssen wir die Produktion begrenzen und Konzerne dafür verantwortlich machen, die sozialen Kosten zu übernehmen, die sie mit ihrer Plastikverschmutzung verursachen.“

    Eine Tonne ist nicht gleich eine Tonne

    Die Idee ist nicht neu. Plastic Credits sind wie Emissionsgutschriften. „Sie haben auch viele der gleichen Schwachstellen“, sagt Sangcheol Moon, Umweltforscherin an der University of California, Berkeley, und Erstautorin der Studie. „Bei den Projekten werden oft Aktivitäten gutgeschrieben, die auch ohne die Gutschriften stattgefunden hätten. Außerdem gibt es Entsorgungspfade, bei denen Plastik erneut in die Umwelt gelangen kann. In manchen Fällen haben Plastic Credits-Systeme zu gesundheitlichen Schäden in den umliegenden Gemeinden geführt und die informelle Abfallwirtschaft ohne notwendige Sicherheitsvorkehrungen integriert.“

    Die Berechnung von Plastic Credits basiert auf der Prämisse, dass eine Tonne in der Umwelt eingesammelten oder recycelten Plastikmülls einer Tonne des „Plastik-Fußabdrucks“ entspricht. Dieses Konzept ist jedoch nicht allgemein anerkannt und kann in verschiedenen Zusammenhängen erheblich variieren. Zudem wird es der Komplexität von Kunststoffen nicht gerecht: „Dieser Ansatz übersieht die enorme Vielfalt in der Zusammensetzung von Kunststoffen und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit“, sagt Sangcheol Moon. „Bei Treibhausgasemissionen gibt es eine standardisierte, wissenschaftlich anerkannte Metrik: das globale Erwärmungspotenzial, das in CO₂-Äquivalenten ausgedrückt wird. Die meisten Treibhausgase sind in der Atmosphäre gut vermischt und wirken sich, je nach Quelle oder Ort, relativ gleich auf das Klima aus. Bei der Plastikverschmutzung gibt es jedoch keine universelle Metrik.“ Kunststoffe unterscheiden sich stark in Bezug auf Toxizität, Recyclingfähigkeit und sozioökonomische Auswirkungen. Eine Tonne klarer, gut recycelbarer PET-Flaschen ist beispielsweise nicht mit einer Tonne nicht recycelbarer Verpackungen aus mehrschichtigen Materialien und unterschiedlichen chemischen Zusätzen gleichzusetzen. Diese fehlerhafte Äquivalenz stellt die Logik der Kompensation mit Plastic Credits infrage, da bei Kunststoffen gleiches Gewicht nicht gleichbedeutend mit gleichen Folgen ist.

    Über die Verhandlungen für ein verbindliches UN-Plastikabkommen

    Seit 2022 kommen Delegierte aller 193 UN-Mitgliedsstaaten sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammen, um ein rechtsverbindliches Abkommen (UN Plastics Treaty) zur Reduzierung der Plastikverschmutzung auszuarbeiten. Der ursprüngliche Zeitplan für die Verhandlungen wurde verlängert. Die nächste Verhandlungsrunde findet vom 5. bis 14. August 2025 in Genf statt.
    https://www.awi.de/im-fokus/muell-im-meer/un-plastics-treaty.html

    Gemeinsame Presseinfo des AWI, der University of California Berkeley, California State Polytechnic University, Sorbonne Université


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Ansprechpersonen Wissenschaft
    Melanie Bergmann
    Melanie.Bergmann@awi.de
    +49 (0) 471 4831-1739
    https://www.awi.de/ueber-uns/service/expertendatenbank/melanie-bergmann.html

    Sangcheol Moon
    sangcheol_moon@berkeley.edu
    https://ourenvironment.berkeley.edu/users/1652459

    Andrea Bonisoli-Alquati
    aalquati@cpp.edu
    https://experts.cpp.edu/member/andrea-bonisoli-alquati/

    Ansprechperson Pressestelle
    Sarah Werner
    Sarah.Werner@awi.de
    +49 (0) 471 4831-2008


    Originalpublikation:

    doi.org/10.1016/j.oneear.2025.101303.


    Weitere Informationen:

    http://www.awi.de/ueber-uns/service/presse.html


    Bilder

    Auch wenn Plastikgutschriften als innovativer Weg zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung beworben werden, könnten sie genau das Gegenteil bewirken und die Krise verschärfen.
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    Sangcheol Moo
    Sangcheol Moon


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
    Umwelt / Ökologie
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Kooperationen
    Deutsch


     

    Auch wenn Plastikgutschriften als innovativer Weg zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung beworben werden, könnten sie genau das Gegenteil bewirken und die Krise verschärfen.


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