Zeitgenössischer Tanz wird von Laien nicht unbedingt intuitiv „verstanden”, wie es zum Beispiel beim Ballett der Fall ist. Welche Faktoren haben also Einfluss darauf, ob Zuschauer:innen eine solche Tanzperformance gefällt oder nicht? Ein interdisziplinäres Forschungsteam unter Leitung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main hat anhand von Live-Tanzperformances untersucht, was Menschen an zeitgenössischem Tanz mögen und fand heraus, dass sowohl objektive als auch subjektive Faktoren eine Rolle spielen. Die Studienergebnisse wurden kürzlich im Fachmagazin Cognition veröffentlicht.
Rund 40 Zuschauer:innen sahen sich die Aufführungen vor Ort im Institutsgebäude des MPIEA an, ebenso viele verfolgten sie online per Live-Stream. Die Forscher:innen präsentierten dem Publikum sechs Mal eine choreografisch gleichbleibende Performance: Zwei Mal tanzte ein Tänzer des Staatstheaters Kassel live auf der Bühne, zwei Mal war ein Avatar des Tänzers auf einer Leinwand zu sehen und zwei Mal eine voraufgezeichnete Videosequenz mit demselben Tänzer. Nach jeder Aufführungssequenz wurden die Zuschauer:innen gebeten, anhand eines Fragenkatalogs ihre Bewertungen abzugeben.
Die Ergebnisse zeigen, dass das Erlebnis einer Tanzperformance stark davon abhing, wie ausdrucksstark der Tänzer tanzte. Die expressiv getanzten Sequenzen fielen in der Bewertung des Publikums deutlich besser aus, als die ausdrucksschwächeren. Da der Tänzer bei seinen Darbietungen einen Motion-Capture-Anzug trug, konnten die Forscher:innen seine Bewegungen verfolgen und seine Beschleunigung sowie Geschwindigkeit objektiv messen.
„Bisher wurde die Ausdruckskraft von Tanzbewegungen nur in Laborsituationen objektiv gemessen“, erklärt Fredrik Ullén, Co-Autor der Studie und Direktor am MPIEA. „Mithilfe der kinematischen Merkmale konnten wir nun erstmals bei einer echten Live-Tanzperformance objektiv zwischen ausdrucksstarken und nicht ausdrucksstarken Tanzbewegungen unterscheiden, ohne uns dabei nur auf die subjektiven Bewertungen des Tänzers und des Publikums verlassen zu müssen.“
Außerdem spielten subjektive Faktoren wie Alter, Persönlichkeit, Geschlecht und Bildung bei der Bewertung eine Rolle. Frauen sagten die Performances im Allgemeinen mehr zu als Männern. Darüber hinaus war das Interesse der Teilnehmer:innen umso größer, je älter sie waren. Ein überraschendes Ergebnis lieferte die Variable „Bildung“: Je höher die Schulbildung der Zuschauer:innen war, desto geringer war ihr Interesse. Auch die Persönlichkeitsvariable „Offenheit“ hatte Einfluss auf die Bewertung: Je offener und empfindsamer die Teilnehmer:innen waren, desto größer war ihr Interesse, eine solche Aufführung erneut zu besuchen.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass der künstlerische Ausdruck einer der Gründe ist, warum sich Menschen zeitgenössischen Tanz gerne ansehen. Durch die komplexe Wechselwirkung zwischen Performance und Publikum wird es jedoch nie eine allgemeingültige Formel für Tanzaufführungen geben können, die alle Zuschauer:innen gleichermaßen ansprechen und begeistern“, resümiert Erstautorin Julia F. Christensen vom MPIEA. „Denn es kommt immer darauf an, wer sich wie mit Tanz ausdrückt und wer diesen Ausdruck wahrnimmt. Aber vielleicht liegt genau darin ja die Schönheit des Ganzen.“
Auch die objektiven Faktoren des theatralen Settings beeinflussen das Erlebnis: Dem Publikum gefielen die Live-Darbietungen deutlich besser als die voraufgezeichneten Tanzvideos. Ebenso lag die menschliche Tanzperformance in der Gunst des Publikums klar vor der des Avatars. Beim Vergleich von Live und Stream gab es hingegen keinen nennbaren Unterschied: Entgegen der ursprünglichen Annahme gefielen die Stücke dem Online-Publikum grundsätzlich genauso gut wie den Zuschauer:innen vor Ort.
Zwar lassen sich diese Erkenntnisse nicht auf alle Tanzaufführungen übertragen, aber sie sprechen dafür, dass neben den objektiven Faktoren des theatralen Settings insbesondere auch individuelle Unterschiede eine entscheidende Rolle für das ästhetische Erleben des Publikums spielen. Dabei kommen vor allem vorheriges tänzerisches Engagement und künstlerische Bildung zum Tragen.
Co-Seniorautorin Emily Cross von der ETH Zürich, Schweiz, bemerkt abschließend: „Die Bildung eines neuen Theaterpublikums, das schon in jungen Jahren mit dieser Art des tänzerischen Ausdrucks vertraut ist, könnte also dazu beitragen, die Theaterplätze von morgen zu füllen. Choreograf:innen und Tanzkompanien, die bereits Publikumsarbeit leisten, indem sie die breite Öffentlichkeit zu Proben und Tanzmatineen einladen, handeln bereits entsprechend. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass es sinnvoll wäre, solche Outreach-Programme in Theatern auszuweiten.“
Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Dr. Julia F. Christensen
julia.christensen@ae.mpg.de
Christensen, J. F., Schmidt, E.-M., Frieler, K., Smith-Chase, R. A., Sancho-Escanero, L., Michalareas, G., Ullén, F., & Cross, E. S. (2025). Aesthetic Appeal of Dance Actions Depends on Expressivity, Liveness and Audience Characteristics. Cognition, 263, 106152. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2025.106152
Der Tänzer Vincenzo Minervini präsentierte dem Publikum eine choreografisch gleichbleibende Performa ...
Foto: F. Bernoully
(MPI für empirische Ästhetik / F. Bernoully)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Gesellschaft, Musik / Theater, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Der Tänzer Vincenzo Minervini präsentierte dem Publikum eine choreografisch gleichbleibende Performa ...
Foto: F. Bernoully
(MPI für empirische Ästhetik / F. Bernoully)
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