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26.06.2025 10:28

Zellen haben scharfe Ohren

Thomas Richter Öffentlichkeitsarbeit
Georg-August-Universität Göttingen

    Forschende entdecken Parallelen in der Zellkommunikation zwischen Embryo und Ohr

    Wie alle komplexen Organismen entsteht jeder Mensch aus einer einzigen Zelle, die sich durch unzählige Zellteilungen vervielfacht. Tausende von Zellen koordinieren sich, bewegen sich und üben mechanische Kräfte aufeinander aus, wenn ein Embryo Gestalt annimmt. Forschende des Göttingen Campus Instituts für Dynamik biologischer Netzwerke (CIDBN), des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation und der Universität Marburg haben nun im embryonalen Zellverhalten eine neue Form der Koordination entdeckt. Dabei greifen bisher vom Hören bekannte molekulare Mechanismen.

    Dass Zellen in zwei so verschiedenen Funktionen die gleichen Proteine einsetzen, führen die Forschenden auf den evolutionären Ursprung zurück. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Current Biology erschienen.

    Mit neuartig kombinierten Methoden aus Entwicklungsgenetik, Hirnforschung, Hörforschung und theoretischer Physik gelangen dem interdisziplinären Team überraschende Einblicke in die Zellkommunikation: In dünnen Hautschichten registrieren Zellen die Bewegungen ihrer Nachbarzellen und synchronisieren ihre eigenen winzigen Bewegungen mit denen der anderen. Gruppen benachbarter Zellen ziehen so kraftvoll an einem Strang. Durch ihre hohe Empfindlichkeit koordinieren sich die Zellen sehr schnell und flexibel, denn feine Kräfte breiten sich als Signale im embryonalen Gewebe am schnellsten aus. Wird den Zellen die Fähigkeit einander „zuzuhören“ genetisch genommen, deformiert sich das ganze Gewebe und die Entwicklung des Organismus verzögert sich oder scheitert ganz.

    In Form von mechanischen Signalen konnten die Forschenden die zelluläre Koordination in Computermodelle integrieren. Es zeigte sich, dass das „Geflüster“ zwischen benachbarten Zellen zu einer verwobenen Choreographie des gesamten Gewebes führt und es vor Deformationen durch äußere Kräfte schützt. Beide Effekte ließen sich in mikroskopischen Videoaufnahmen der Embryonalentwicklung und in weiteren Experimenten bestätigen. „Durch KI-Methoden und computergestützte Analysen konnten wir etwa hundertmal so viele Zellpaare untersuchen, wie bisher in diesem Feld üblich war“, betont Dr. Matthias Häring, Gruppenleiter am CIDBN und Co-Autor der Studie. „Dieser Big Data-Ansatz gibt unseren Ergebnissen die große Genauigkeit, die nötig ist, um dem subtilen Zusammenspiel der Zellen verlässlich auf den Grund zu gehen.“

    Die aufgedeckten Mechanismen waren bisher vom Hören bekannt: Bei sehr leisen Geräuschen reagieren die Haarzellen im Ohr, die Schallwellen in Nervensignale verwandeln, auf winzige mechanische Bewegungen. Die feinen Haarbündel der Zellen verbiegen sich an der Schwelle des Hörens über Strecken, die nur wenige Atomdurchmesser lang sind. Dass das Ohr so empfindlich ist, liegt an speziellen Proteinen, die mechanische Kräfte in elektrische Ströme übersetzen. Fast niemand hat bislang vermutet, dass derartige Kraft-Sensoren auch in der Embryonalentwicklung eine wichtige Rolle spielen. Möglich ist das, weil jede Zelle des Körpers die genetischen Baupläne aller Proteine in sich trägt und sie nach ihrem Bedarf einsetzt.

    Das Phänomen könnte Aufschluss darüber geben, wie sich die zelluläre Wahrnehmung von Kraft entwickelt hat. „Die evolutionären Erfinderinnen kraftgesteuerter Ionenkanal-Proteine waren wahrscheinlich unsere einzelligen, gemeinsamen Vorfahren mit den ersten Pilzen, die lange vor dem Ursprung tierischen Lebens entstanden sind“, erklärt Prof. Dr. Fred Wolf, Direktor des CIDBN und Co-Autor der Studie. „Aber erst mit der Evolution der ersten Tiere ist die heutige Vielfalt dieses Proteintyps entstanden.“ Untersuchungen sollen zeigen, ob die ursprüngliche Aufgabe dieser Nanomaschinen die Wahrnehmung von Kräften im Inneren des Körpers und nicht, wie beim Hören, die Wahrnehmung der Außenwelt war.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Dr. Britta Korkowsky
    Georg-August-Universität Göttingen
    Göttingen Campus Institut für Dynamik biologischer Netzwerke (CIDBN) – Geschäftsstelle
    Heinrich-Düker-Weg 12, 37073 Göttingen
    Telefon: 0551 39-26675
    E-Mail: cidbn@uni-goettingen.de


    Originalpublikation:

    Originalveröffentlichung: Richa P., Häring M., Wang Q., Choudhury A. R., Göpfert M. C., Wolf F., Großhans J., Kong D. Synchronization in epithelial tissue morphogenesis. Current Biology 35, 1–14 (2025). https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982225003823?via%3Dihub


    Weitere Informationen:

    https://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?id=7846 weitere Fotos


    Bilder

    Modelorganismus der Studie: Embryo der Fruchtfliege (Drosophila) in der Rückenansicht. In den rot gefärbten Bereichen synchronisieren die Zellen ihre mechanische Zugkraft. Skalenbalken: 50 Mikrometer = 0,05 Millimeter
    Modelorganismus der Studie: Embryo der Fruchtfliege (Drosophila) in der Rückenansicht. In den rot ge ...
    Quelle: P. Richa, M. Häring et al.
    Copyright: P. Richa, M. Häring et al. DOI: 10.1016/j.cub.2025.03.066


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Informationstechnik, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Modelorganismus der Studie: Embryo der Fruchtfliege (Drosophila) in der Rückenansicht. In den rot gefärbten Bereichen synchronisieren die Zellen ihre mechanische Zugkraft. Skalenbalken: 50 Mikrometer = 0,05 Millimeter


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