Jens Mayer vom Institut für Humangenetik der Universität des Saarlandes beeinflusst die Arbeit von Virologen, Medizinern und Biowissenschaftlern in aller Welt, wobei die meisten ihn nicht kennen werden. Mayer leitet eine kleine Arbeitsgruppe mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt, die sich mit der Benennung von gut 60 Retroviren beschäftigt. Ihr Ziel: deren eindeutige wissenschaftliche Bezeichnung. Viren haben nämlich bislang in vielen Sprachen der Welt unterschiedliche Namen, so auch das HI-Virus, das Aids auslösen kann. Die Aktualisierung der Namen wurde nun in der Zeitschrift Archives of Virology veröffentlicht.
Wenn ein Homo sapiens aus dem Saarland im Spätsommer beherzt in ein prächtiges Stück Prunus-domestica-subsp.-domestica-Kuchen mit Sahne beißt und dabei hier und da ein paar Exemplare von Vespula germanica wegscheuchen muss, denkt sich ein Nicht-Wissenschaftler aus dem Ruhrpott womöglich nur: „Watt für’n Ding? Prunus? Is dat der neue Toyota?“ Dank des schwedischen Naturforschers Carl von Linné, der die binäre Nomenklatur für Tiere und Pflanzen vor knapp 300 Jahren erfunden hat, weiß sein Nachbar, der Biologe, hingegen sofort um die kulinarische Leidenschaft des Saarländers. Denn diesem und allen anderen biologisch beschlagenen Menschen auf dem Planeten ist sofort klar: Hier sitzt ein Mensch aus dem Saarland im Spätsommer vorm Quetschekuchen (Zwetschgenkuchen, für Nichtsaarländer) und wedelt ein paar lästige Wespen weg, die ihm den Kuchen streitig machen wollen. Genauer gesagt, Deutsche Wespen, denn es gibt ja auch noch die Gemeine Wespe (Vespula vulgaris) bei uns.
Für die Wissenschaft sind solche einheitlichen Bezeichnungen von Arten von unschätzbarem Wert. Denn schließlich wissen Fachleute auf diese Weise unmissverständlich, wovon eine Kollegin spricht, die eine halbe Welt entfernt im Labor oder im Dschungel forscht und ihre Erkenntnisse später in einem Journal veröffentlicht. Selbst wenn sie sich nie von Angesicht zu Angesicht begegnen (was wahrscheinlich ist), können beide dennoch von der Arbeit des anderen profitieren, weil sie genau wissen, an welchem Tier oder welcher Pflanze der andere forscht. Ein System, so einfach wie genial.
Und ein System, das bisher nicht für Viren galt. „HIV beispielsweise heißt auf Französisch Le virus de l'immunodéficience humaine, auf Niederländisch humaan immunodeficiëntievirus, auf Schwedisch humant immunbristvirus, auf Polnisch Ludzki wirus niedoboru odporności“, sagt Jens Mayer. Der Wissenschaftler forscht am Institut für Humangenetik an der Universität des Saarlandes insbesondere über Retroviren, die ihre Erbinformationen in die DNA der befallenen Wirtszellen einbauen. Zu diesen zählt auch das HI-Virus. Natürlich sind die bisherigen wissenschaftlichen Bezeichnungen für Viren nicht komplett willkürlich. Festgelegt werden die Bezeichnungen seit den 1960er Jahren vom Internationalen Komitee für die Taxonomie von Viren (ICTV).
Zusammen mit einer Kollegin der Rockefeller Universität in New York leitet Jens Mayer von Homburg aus die international besetzte Arbeitsgruppe innerhalb des ICTV, welche mehr als 60 Retroviren betreut. „Wir haben in den vergangenen Monaten binäre Bezeichnungen für diese Retroviren ausgearbeitet, die nun publiziert wurden“, erläutert Jens Mayer.
HIV, von dem es strenggenommen HIV-1 und HIV-2 gibt, wird in der wissenschaftlichen Literatur zukünftig mit seiner wissenschaftlichen Bezeichnung Lentivirus humimdef1 beziehungsweise Lentivirus humimdef2 genannt. „Das Koalas infizierende, eine Immunschwächeerkrankung auslösende Koala-Retrovirus wird zukünftig als Gammaretrovirus koa bezeichnet. Das bei Schafen weiter verbreitete Jaagsiekte Schaf-Retrovirus, welches bei Schafen und Ziegen eine Krebserkrankung hervorrufen kann, wird als Betaretrovirus ovijaa bezeichnet“, nennt der Virologe und Genetiker zwei weitere Beispiele aus dem Tierreich.
Dass Viren erst heute, fast 300 Jahre später als Pflanzen und Tiere, mit eindeutigen wissenschaftlichen Bezeichnungen versehen werden, liegt unter anderem daran, dass sie viel später entdeckt wurden. Eine Eiche oder ein Wildschwein konnte man immer schon mit bloßem Auge erkennen. Ein Virus natürlich nicht. Selbst Bakterien, die mit bloßem Auge ebenfalls nicht zu sehen sind, kann man mit einem guten, aber immer noch recht simplen Lichtmikroskop sichtbar machen. Ein zigfach kleineres Virus bleibt hingegen auch damit noch unsichtbar. Heute werden neue Viren in der Regel über genetische Analyseverfahren gefunden. „In den vergangenen Jahren wurden sehr viele neue Virusarten gefunden und definiert. Heute gibt es ungefähr 16.000 verschiedene von der ICTV aufgeführte Virus-Arten, vor wenigen Jahren kannte man ‚nur‘ rund 11.000. Das zeigt, wie rasant unser Wissen über Viren wächst“, erklärt Jens Mayer. Diese Entwicklung hatte das ICTV vor Jahren bewogen, eine einheitliche Nomenklatur für Viren einzuführen, die von der Linnéschen Systematik inspiriert ist.
Innerhalb des ICTV haben sich daher in den vergangenen Jahren viele kleine Arbeitsgruppen damit beschäftigt, für „ihre“ Viren einheitliche Namen zu finden. Jens Mayer und sein gutes Dutzend Kolleginnen und Kollegen, unter anderem aus den USA, Japan, Australien, Frankreich und Deutschland, sind allesamt international anerkannte Experten für Retroviren und deren Genetik. Auch die vielen anderen Arbeitsgruppen sind mit Fachleuten für die jeweiligen Viren besetzt.
Veröffentlicht eine Fachgruppe, wie nun die von Jens Mayer mit geleitete über Retroviren, ihre Bezeichnungen, gelten diese von da an als bindend für die Wissenschaft. Künftig werden also alle wissenschaftlichen Artikel, die sich mit dem Lentivirus humimdef1 beschäftigen, auch unter diesem Stichwort zu finden sein. Vorbei sind dann die Zeiten, in denen ein Virologe eine wichtige Publikation verpasst, weil darin vom Virus de l'immunodéficience oder vom Ludzki wirus niedoboru odporności die Rede ist. Diese Eindeutigkeit ist wichtig, damit alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit einem bestimmten Virus beschäftigen, die Chance haben, sich möglichst umfassend über den aktuellen Stand der Forschung zu informieren. Auch die schiere Zahl an Publikationen, weltweit sollen es deutlich über eine Million weltweit pro Jahr sein (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1016642/umfrage/ranking-der-laend...), macht es nahezu unmöglich, dass eine Person alles über ihr Fachgebiet erfassen kann, auch wenn dies nur ein einziges Virus ist, zu dem vielleicht einige Dutzend Veröffentlichungen erscheinen. Diese Unsicherheiten dürften für Retrovirus-Forscher wie Jens Mayer nun der Vergangenheit angehören. Denn dank ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen im ICTV wissen nun alle eindeutig, woran die anderen genau forschen. „Der alltägliche Gebrauch zum Beispiel des Begriffs "HIV" bleibt von diesen neuen Bezeichnungen aber unberührt“, betont Jens Mayer.
Beim Stückchen Prunus-domestica-subsp.-domestica-Kuchen mit Sahne können die Forscher auf der nächsten Konferenz dann über ihre Erkenntnisse plaudern. Aber aufpassen sollten sie dennoch gut. Nicht, dass Vespula germanica den anwesenden Exemplaren von Homo sapiens noch übel mitspielt.
Prof. Dr. Jens Mayer
Tel.: (06841) 16 26627
E-Mail: jens.mayer(at)uks.eu
Mayer, J., Blanco-Melo, D., Coffin, J.M. et al. 2024 taxonomy update for the family Retroviridae. Arch Virol 170, 164 (2025). https://doi.org/10.1007/s00705-025-06353-y
Professor Jens Mayer leitet vom Saarland aus eine internationale Arbeitsgruppe, die sich mit der off ...
Quelle: Thorsten Mohr
Copyright: Universität des Saarlandes/Thorsten Mohr
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
regional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Professor Jens Mayer leitet vom Saarland aus eine internationale Arbeitsgruppe, die sich mit der off ...
Quelle: Thorsten Mohr
Copyright: Universität des Saarlandes/Thorsten Mohr
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).