Harnstoff ist eine grundlegende Industriechemikalie und könnte bei der Entstehung des Lebens eine zentrale Rolle gespielt haben.
ETH-Forschende entdecken eine neue Reaktion: Kohlendioxid (CO₂) und Ammoniak (NH₃) bilden an wässrigen Oberflächen spontan Harnstoff.
Die Reaktion erfordert weder Katalysatoren noch Druck oder Hitze und zeigt, wie sich Harnstoff in der Frühzeit auf der Erde womöglich anreichern konnte.
Zudem birgt die Reaktion das Potenzial für eine nachhaltige und energiearme Harnstoffsynthese.
Harnstoff zählt zu den wichtigsten industriell produzierten Chemikalien weltweit – als Düngemittel, Grundstoff für Kunstharze und Sprengstoff oder als Treibstoffzusatz zur Reinigung von Autoabgasen. Harnstoff gilt aber auch als möglicher Schlüsselbaustein für die Bildung von Biomolekülen wie RNA und DNA im Zusammenhang mit dem Ursprung des Lebens (siehe ETH-News vom 28.06.2023). Wie allerdings Harnstoff selbst auf der frühen Erde entstanden ist, war bis anhin nicht abschliessend geklärt.
Nun hat ein Forschungsteam um Ruth Signorell, Professorin für Physikalische Chemie an der ETH Zürich, einen bisher unbekannten Reaktionsweg für die Bildung von Harnstoff entdeckt, der diese Lücke schliessen könnte. Die externe SeiteStudie ist soeben im Fachmagazin Science erschienen.
Chemie an der Wasseroberfläche
Um Harnstoff industriell aus Ammoniak (NH₃) und Kohlendioxid (CO₂) herzustellen, braucht es entweder hohe Drucke und Temperaturen oder chemische Katalysatoren. Bei Menschen und Tieren ermöglichen Enzyme dieselbe Reaktion, um giftigen Ammoniak aus dem Abbau von Proteinen als Harnstoff auszuscheiden. Weil dieses einfache Molekül neben Kohlenstoff auch Stickstoff enthält und wahrscheinlich schon früh auf der noch unbelebten Erde vorkam, sehen viele Forschende Harnstoff als möglichen Vorläufer für komplexe Biomoleküle.
«In unserer Studie zeigen wir einen Weg, wo und wie Harnstoff auf der präbiotischen Erde entstanden sein könnte», sagt Signorell – «nämlich dort, wo Wassermoleküle mit atmosphärischen Gasen wechselwirken: an der Wasseroberfläche».
Reaktor am Rand des Tröpfchens
Dazu untersuchte Signorells Team feinste Wassertröpfchen, wie man sie etwa in Meeresgischt oder feinem Nebel finden kann. Die Forschenden beobachteten, dass sich Harnstoff unter Umgebungsbedingungen spontan aus Kohlenstoffdioxid (CO₂) und Ammoniak (NH₃) in der Oberflächenschicht der Wassertröpfchen bilden kann. Die physikalische Grenze zwischen Luft und Flüssigkeit sorgt an der Wasseroberfläche für ein spezielles chemisches Milieu, das die spontane Reaktion überhaupt erst ermöglicht.
Da ein Tropfen im Verhältnis zu seinem Volumen eine sehr grosse Oberfläche besitzt, laufen chemische Reaktionen vor allem in der Nähe dieser Oberfläche ab. In diesem Bereich bilden sich chemische Konzentrationsgefälle, die wie ein mikroskopischer Reaktor wirken. Konkret schafft der pH-Gradient an der Grenzschicht der Wassertröpfchen die notwendige saure Umgebung, die unkonventionelle Reaktionswege begünstigt, welche sonst in Flüssigkeiten nicht stattfinden.
«Der bemerkenswerte Aspekt dieser Reaktion ist, dass sie unter Umgebungsbedingungen abläuft – ohne zugesetzte Energie», erklärt Mercede Mohajer Azizbaig, eine der beiden Erstautor:innen. Dies macht den Prozess nicht nur aus technischer Perspektive interessant, sondern liefert auch wertvolle Hinweise auf Vorgänge, die für die Evolution bedeutend sein könnten.
Ein Fenster zur Frühzeit der Erde
Zum Ursprung des Lebens wird aktuell viel und breit geforscht, wobei unterschiedliche Ansätze im Fokus stehen. Erstautor Pallab Basuri führt aus: «Bei einem so umstrittenen Forschungsfeld war für uns wichtig, die Beobachtungen zusätzlich zu untermauern.» Theoretische Berechnungen der Mitautoren Evangelos Miliordos und Andrei Evdokimov von der Universität Auburn stützten die experimentellen Befunde und bestätigten, dass die Harnstoffreaktion auf den Tröpfchen ganz ohne externe Energiezufuhr abläuft.
Die Ergebnisse legen nahe, dass dieser natürliche Reaktionsweg auch in der Atmosphäre der frühen Erde möglich gewesen sein könnte – einer Atmosphäre, die reich an CO₂ war und vermutlich geringe Spuren von Ammoniak enthielt. In solchen Umgebungen könnten wässrige Aerosole oder Nebeltröpfchen als natürliche Reaktoren gewirkt haben, in denen sich Vorläufermoleküle wie etwa Harnstoff bildeten. «Unsere Studie zeigt, wie scheinbar banale Grenzflächen zu dynamischen Reaktionsräumen werden – ein Hinweis, dass der Ursprung biologischer Moleküle gewöhnlicher sein könnte, als lange vermutet», sagt Signorell.
Die direkte Reaktion von CO₂ und Ammoniak unter Umgebungsbedingungen könnte langfristig auch Potential zur klimafreundlichen Produktion von Harnstoff und Folgeprodukten haben.
Prof. Dr. Ruth Signorell
Ordentliche Professorin am Departement Chemie und Angewandte Biowissenschaften
Stellvertretende Leiterin Laboratorium für Physikalische Chemie
+41 44 633 46 21
ruth.signorell@phys.chem.ethz.ch
https://www.science.org/doi/10.1126/science.adv2362
https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2025/06/wie-sich-harns...
Grafische Darstellung der Harnstoffbildung in einem Tröpfchen
Quelle: Luis Quintero / ETH Zürich
Copyright: (Grafik: Luis Quintero / ETH Zürich)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Chemie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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