Enzyme beschleunigen chemische Reaktionen in Organismen, ohne sie ist kein Leben möglich. Forschenden der Charité – Universitätsmedizin Berlin ist es nun mithilfe der künstlichen Intelligenz AlphaFold2 gelungen, Gesetzmäßigkeiten ihrer Evolution in großem Stil zu analysieren. Im Fachmagazin Nature* beschreiben sie, welche Enzymbereiche sich vergleichsweise schnell wandeln und welche über die Zeit praktisch unverändert bleiben. Die Erkenntnisse sind beispielsweise für die Entwicklung neuer Antibiotika relevant.
Enzyme sind so etwas wie klitzekleine Chemiker der Natur: Die nanometergroßen Eiweißmoleküle sorgen in jeder einzelnen Zelle eines jeden Organismus dafür, dass chemische Reaktionen ablaufen können. Von den meisten unbemerkt, bestimmen Enzyme unser Leben: Sie erst ermöglichen – sowohl uns als auch Mikroorganismen – die Verdauung von Nahrung. Ohne sie gäbe es kein Brot, kein Bier und keinen Käse. Auch die Industrie setzt sie ein, beispielsweise zur Herstellung von Medikamenten oder Waschmitteln. Zudem spielen Enzyme für die Wirksamkeit und den Wirkmechanismus vieler Medikamente eine zentrale Rolle.
„Wir wollten verstehen, nach welchen Regeln sich Enzyme über die Zeit in ihrer räumlichen Gestalt verändern“, erklärt Studienleiter Prof. Markus Ralser, Direktor des Instituts für Biochemie der Charité. „Denn wenn wir diese Regeln kennen, können wir beispielsweise voraussagen, wo und wie ein Bakterium gegen ein Antibiotikum resistent werden wird.“ Viele Antibiotika und Anti-Pilz-Medikamente richten sich gegen spezifische Enzyme der Erreger. Verändern diese ihre Form genau dort, wo der jeweilige Wirkstoff andockt, verliert das Medikament seine Wirkung. Dasselbe Prinzip gilt für zahlreiche andere Arzneimittel. Viele Krebsmedikamente richten sich gegen Enzyme im Tumor, die unter der Behandlung ihre Gestalt verändern können und das Medikament so wirkungslos werden lassen.
Erst KI-System ermöglicht Beantwortung der Forschungsfrage
Die Prinzipien der Enzym-Evolution zu bestimmen, ist allerdings leichter gesagt als getan. Nötig ist ein Vergleich der dreidimensionalen Form unzähliger Enzyme. Diese Informationen waren aber für viele Enzyme nicht bekannt, denn die 3D-Struktur nur eines einzelnen Enzyms experimentell zu ermitteln, ist aufwendig und dauert mitunter mehrere Monate. „Wir haben die Gestalt von fast 10.000 Enzymen stattdessen in wenigen Monaten mit AlphaFold2 berechnet“, sagt Markus Ralser.
AlphaFold2 ist ein KI-Modell, das allein auf Basis der Aminosäuresequenz, also der chemischen Zusammensetzung eines Enzyms, ableitet, wie seine 3D-Struktur aussehen müsste – und eine sehr hohe Treffsicherheit bewiesen hat. AlphaFold2 wurde schon 2020 weltweit als Durchbruch gefeiert. Nur vier Jahre später, im vergangenen Jahr, erhielten die Entwickler des KI-Modells den Nobelpreis für Chemie.
Mit Supercomputing der Evolution auf der Spur
Um AlphaFold2 zu betreiben, braucht es Rechenpower – und zwar sehr viel davon. „Wir haben für unsere Berechnungen den Supercomputer Berzelius in Schweden genutzt“, sagt Dr. Oliver Lemke, Wissenschaftler im Labor von Markus Ralser und einer der beiden Erstautoren der Arbeit. Der 300-Petaflops-Rechner wird vom National Supercomputer Centre der Linköping Universität betrieben und steht internationalen Forschungsteams auf Antrag zur Verfügung.
An der Charité analysierten die Forschenden schließlich die Ähnlichkeiten und Unterschiede von insgesamt knapp 11.300 Enzymen und betrachteten sie im Kontext der Stoffwechselreaktionen, die diese verantworten. Zusätzlich zu den rund 10.000 3D-Strukturen, die sie selbst berechnet hatten, berücksichtigten sie etwa 1.300 3D-Strukturen, die zuvor schon mit AlphaFold2 vorhergesagt und veröffentlicht worden waren.
Das Team konzentrierte sich in seiner Arbeit auf Enzyme aus Hefen, also einzelligen Pilzen, zu denen beispielsweise die Bäckerhefe gehört. Dr. Benjamin Heineike, der zweite Erstautor der Studie aus dem Ralser-Labor, erklärt: „Hefepilze gehören zu den am besten untersuchten Organismen. Ob bezüglich Enzym-Genen oder Stoffwechsel, zu ihnen lagen uns die umfassendsten Daten vor.“ Die untersuchten Enzyme stammten aus 27 verschiedenen Hefe-Arten, die sich über einen Evolutionszeitraum von 400 Millionen Jahren entwickelt haben.
Die Chemie bestimmt den Enzymwandel
Das Forschungsteam entdeckte gleich mehrere Gesetzmäßigkeiten, nach denen Enzyme evolvieren. Beispielsweise verändern sie sich schneller auf ihrer Oberfläche als darunter. Dagegen wandelt sich ihr sogenanntes aktives Zentrum – also der Ort, an dem die chemische Reaktion stattfindet – auch über lange Zeit kaum. Wenn das Enzym auf seiner Oberfläche andere Moleküle binden muss, um seine Funktion zu erfüllen, sind auch jene Bereiche in ihrer Form eingefroren. „Zusammenfassend können wir sagen, dass sich Enzyme vorrangig an den Stellen weiterentwickeln, die keinen Einfluss auf die chemischen Reaktionen haben“, erklärt Markus Ralser. „Der Stoffwechsel selbst bedingt also maßgeblich die Evolution der Enzymstruktur.“
Die Studienergebnisse sind beispielsweise für die Optimierung biotechnologischer Verfahren relevant, aber auch für die Entwicklung neuer Wirkstoffe. Um auf das Beispiel Antibiotika zurückzukommen: „Wenn ein neues Antibiotikum auf den Markt kommt, dauert es manchmal nur eine kurze Zeit, bis die ersten Resistenzen auftreten“, sagt Markus Ralser. „Das liegt daran, dass sich die bakteriellen Enzyme, gegen die die Wirkstoffe gerichtet sind, in hohem Tempo weiterentwickeln. Mit unseren Daten lassen sich die Bereiche der Enzyme identifizieren, die sich voraussichtlich kaum verändern werden. Neue Antibiotika, die genau dort angreifen, könnten potenziell über einen längeren Zeitraum ihre Wirkung behalten.“
*Lemke O, Heineike BM et al. The role of metabolism in shaping enzyme structures over 400 million years. Nature 2025 Jul 09. doi: 10.1038/s41586-025-09205-6
Über die Studie
Geleitet wurde die Studie von Prof. Markus Ralser. Er ist Einstein-Professor für Biochemie und leitet zusätzlich zum Institut für Biochemie der Charité eine Forschungsgruppe am Nuffield Department of Medicine an der Universität Oxford. Er ist zudem ein Fellow am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik (MPIMG) und am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH).
Prof. Markus Ralser
Direktor des Instituts für Biochemie
Charité – Universitätsmedizin Berlin
T: +49 30 450 528 142
E-Mail: markus.ralser@charite.de
https://www.nature.com/articles/s41586-025-09205-6
https://www.nature.com/articles/s41586-025-09205-6 Originalpublikation
https://biochemie.charite.de/ Institut für Biochemie
Dreidimensionale Gestalt des Hefepilz-Enzyms Erg11, generiert mit AlphaFold2. Erg11 wird von Azolen ...
Quelle: Markus Ralser
Copyright: © Charité | Markus Ralser
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Chemie, Informationstechnik, Medizin, Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Dreidimensionale Gestalt des Hefepilz-Enzyms Erg11, generiert mit AlphaFold2. Erg11 wird von Azolen ...
Quelle: Markus Ralser
Copyright: © Charité | Markus Ralser
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).