idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
11.07.2025 11:37

Warum unser Gehirn nach Linien sucht

Caroline Link Presse, Kommunikation und Marketing
Justus-Liebig-Universität Gießen

    Mit Hilfe von Linienmustern aus Schattierungen erzeugt das Gehirn dreidimensionale Bilder – Neue Einblicke in die natürliche 3D-Wahrnehmung

    Eine Schattierung verleiht 3D-Formen Leben, indem sie die Form von Objekten um uns herum herausarbeitet. Obwohl die Schattierung für unsere Wahrnehmung so bedeutsam ist, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lange gerätselt, wie das menschliche Gehirn sie nutzt. Ein Forschungsteam der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und der Yale University (USA) kam nun zu einer überraschenden Antwort: Unser Gehirn erzeugt die 3D-Bilder mit Hilfe von Linienmustern aus Schattierungen. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht worden.

    Bislang wurde angenommen, dass Menschen Schattierungen wie eine Maschine interpretieren, indem sie die Kombination aus Form und Beleuchtung quasi rückwärts konstruieren. Diese Berechnung ist selbst für leistungsstarke Computer herausfordernd – und das visuelle Gehirn ist dafür gar nicht ausgelegt. „Wenn das Gehirn Signale vom Auge erhält, ist einer der ersten Schritte der visuellen Verarbeitung, das Bild durch eine Reihe von ‚Kanten-Detektoren‘ laufen zu lassen, die es wie auf einer Zaubertafel nachzeichnen. Unser Gehirn sucht also nach Linien“, erklärt der JLU-Wahrnehmungsforscher Prof. Dr. Roland W. Fleming, Sprecher des Exzellenzclusters TAM – The Adaptive Mind. „Wir haben uns gefragt, wie Schattierungsmuster für ein Gehirn aussehen würden, das nach Linien sucht.“

    Die Forschenden fanden heraus, dass Schattierungsmuster im Gehirn verschwommene Linien skizzieren, die den 3D-Kurven von Objekten folgen. Durch das Messen dieser Linien kann das Gehirn die 3D-Form konstruieren. Dabei zeigte sich, dass das Gehirn nicht wissen muss, wie Licht von Oberflächen reflektiert wird, um Schattierungen zu verstehen. Im Gegenteil: „Das Gehirn kümmert sich nicht darum, ob die Schattierung physikalisch korrekt ist“, so Prof. Fleming. Dies zeigten Untersuchungen mit künstlerischen Darstellungen von „seltsamen“ Schattierungen – Schattierungen, die die Regeln der Physik brechen, aber die gleichen Linienmuster haben wie echte schattierte Bilder. „Menschen erkennen die gleichen 3D-Formen aus diesen ‚seltsamen‘ Bildern, was uns zeigt, dass es die Linien sind, die zählen“, so Prof. Dr. Steven Zucker, Computerwissenschaftler an der Yale University.

    Mit Hilfe von Computermodellen und Experimenten mit Versuchspersonen testeten die Forschenden ihre Theorie und bestätigten die bemerkenswerte Beziehung zwischen den 3D-Formen, die Menschen wahrnehmen, und den 2D-Linienmustern, die eine Schattierung im Gehirn erzeugt. „Besonders vielversprechend ist, dass diese Theorie für schattierte Objekte aus einer Vielzahl von Materialien gilt – von matt bis chromglänzend. Das konnten bisherige Erklärungen zur visuellen Verarbeitung der Schattierung nicht leisten“, sagt Prof. Fleming.

    Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die visuelle Verarbeitung in der Frühphase, in der die „Kantendetektion“ beginnt, eine viel größere Rolle bei der Wahrnehmung spielt, als bisher angenommen. „Wir wissen nun, welche Informationen das Gehirn in Bildern betrachtet, um die 3D-Struktur der Welt zu verstehen“, sagt Celine Aubuchon, die Erstautorin der Studie. „Vielleicht sind deshalb künstlerische Techniken wie Schattierung und Kreuzschraffur für uns so ansprechend.“ Schließlich sind Zeichnungen – ein Versuch, die 3D-Welt als Bild darzustellen – oft aus skizzenhaften Linien und Konturen aufgebaut.

    Künftig möchten die Forschenden untersuchen, wie sich gelernte Beziehungen zwischen Linienmustern und 3D-Objekten auf unsere Wahrnehmung der Welt auswirken. Dazu nehmen sie nicht nur Schattierungen in den Fokus, sondern auch eine Vielzahl anderer visueller Hinweise.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Roland W. Fleming
    Abteilung Allgemeine Psychologie
    Telefon: 0641 99-26140
    E-Mail: roland.w.fleming@psychol.uni-giessen.de


    Originalpublikation:

    C. Aubuchon, R. Vergne, S.A. Cholewiak, B. Kunsberg, D. Holtmann-Rice, S.W. Zucker, & R.W. Fleming, Orientation fields predict human perception of 3D shape from shading, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 122 (28) e2503088122 (2025), https://doi.org/10.1073/pnas.2503088122


    Weitere Informationen:

    https://Für Studieninteressierte, die tiefer in dieses wissenschaftliche Thema einsteigen möchten, bietet die JLU im Rahmen ihrer forschungsorientierten Lehre den englischsprachigen Masterstudiengang „Mind, Brain and Behaviour“ an:
    https://www.uni-giessen.de/de/studium/studienangebot/master/mbb


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Gesellschaft, Medizin, Psychologie, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Kooperationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).