Genau wie viele Menschen zeigen Tiere Anzeichen von Stress, wenn sie versuchen, für eine Gruppe von Artgenossen die Führung zu übernehmen. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung Konstanzer Biolog*innen des Exzellenclusters „Collective Behaviour“.
Wenn Tiere als Kollektiv handeln, kann das eine Reihe an Vorteilen für alle Mitglieder haben. Die Anführer einer Gruppe profitieren jedoch in der Regel am meisten – so zumindest die landläufige Meinung. Wer führt, hat beispielsweise als erster Zugriff auf wertvolle Ressourcen und kann deshalb oft die „besten Stücke“ für sich beanspruchen. Doch das Anführer-Dasein hat auch seine Schattenseiten: An der Spitze einer Gruppe zu stehen kann mit körperlicher Anstrengung verbunden sein und die exponierte Position erhöht das Risiko, zur Beute von Raubtieren zu werden.
In einer aktuellen Studie in der Fachzeitschrift Current Biology untersuchte ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung von Biolog*innen des Konstanzer Exzellenclusters „Collective Behaviour“, welche weiteren negativen körperlichen Folgen mit einer Führungsrolle verbunden sein können. Anhand von Herzfrequenzmessungen und Bewegungsanalysen bei freilebenden Perlhühnern in Kenia konnten sie nachweisen, dass bereits der Versuch, eine Führungsrolle zu übernehmen, Anzeichen von Stress in den Tieren auslösen kann. Besonders hoch sind diese bei Tieren, die in dem Anliegen, sich an die Spitze der Gruppe zu setzen und die Richtung vorzugeben, scheitern.
Entscheidungsfindung als demokratischer Prozess
Doch wie entscheiden die Tiere einer Gruppe, wem sie folgen und wem nicht? „Wir haben bereits Belege dafür, dass diese Entscheidungsfindung wie ein Abstimmungsprozess funktioniert. Einige Individuen beginnen, sich von der Gruppe zu entfernen und eigenmächtig in eine bestimmte Richtung nach Nahrung zu suchen. Findet ihr Richtungsvorschlag genügend Unterstützer, folgt ihnen schließlich die gesamte Gruppe. Finden sie dagegen keine Anhänger, sind sie gescheitert und kehren zur Gruppe zurück“, erklärt Damien Farine, der die Studie leitete. „Die größte Vorhersagekraft für die letztendliche Bewegungsrichtung der Gruppe hat daher die Richtung des Tieres mit den meisten ‚Followern‘.“
Interessant ist, was manche Tiere dazu bringt, in einer bestimmten Situation die Führungsrolle einzunehmen, während andere lieber folgen. In ihrer aktuellen Studie untersuchten die Forschenden die körperlichen Folgen, die dieser kollektive Entscheidungsprozess für die beteiligten Tiere hat. Dafür beobachteten sie über einen Zeitraum von vier Monaten eine Gruppe freilebender Perlhühner in Kenia und überwachten mit Hilfe von Herzfrequenzmessern und GPS-Ortungsgeräten deren Herzfrequenz und Bewegungsmuster. Sie fanden heraus, dass die Bewegung in der Gruppe an sich schon zu einer erhöhten Herzfrequenz führt, die deutlich höher liegt als bei Tieren, die sich gänzlich unabhängig von der Gruppe bewegen. Gleichzeitig nahm ein weiterer physiologischer Messwert, die sogenannte Herzfrequenzvariabilität, ab.
Scheitern verursacht Stress
Am höchsten war die Herzfrequenz der Perlhühner jedoch immer dann, wenn diese versuchten, zu führen, indem sie aus der Gruppe heraus eine neue Bewegungsrichtung einschlugen – insbesondere in den Fällen, in denen sie dies entgegen der Mehrheit der Gruppenmitglieder taten. „Die meisten von uns können das wahrscheinlich nachempfinden. Die Situation ist ein wenig, als ob man eine Gruppe von Freunden spontan für den Besuch des eigenen Lieblingsrestaurants begeistern möchte, der Großteil der Freunde aber lieber woanders hingehen will“, veranschaulicht James Klarevas-Irby, einer der Hauptautor*innen der Studie. Den beobachteten Anstieg der Herzfrequenz und die gleichzeitige Abnahme ihrer Variabilität deuteten die Forschenden als Anzeichen von physiologischem Stress, der einen erhöhten Energieverbrauch und langfristige physiologische Schäden mit sich bringen kann.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Verhaltensweisen, die oft als vorteilhaft für das Individuum angesehen werden – nämlich der Versuch, innerhalb der Gruppe die Führung zu übernehmen und so das Verhalten der gesamten Gruppe zu bestimmen – auch ihren Preis haben, da sie physiologisch kostspielig sind“, fasst Hanja Brandl, ebenfalls als Hauptautor*in an der Studie beteiligt, zusammen. „Das ist ein entscheidender Nachteil und könnte erklären, warum manche Tiere sich gegen eine Führungsrolle entscheiden und lieber im Hintergrund bleiben.“ Die Forschenden gehen davon aus, dass ihre Ergebnisse ein allgemeines Verhaltensmuster gruppenlebender Tiere widerspiegeln und sich daher auch auf andere Arten übertragen lassen.
Faktenübersicht:
•Originalpublikation: H.B. Brandl, J.A. Klarevas-Irby, D. Zuñiga, C. Hansen Wheat, C. Christensen, F. Omengo, C. Nzomo, W. Cherono, B. Nyaguthii & D.R. Farine, The physiological cost of leadership in collective movements (2025) Current Biology; doi: 10.1016/j.cub.2025.06.065
•Der Exzellenzcluster Kollektives Verhalten der Universität Konstanz ist ein weltweit führendes Spitzenforschungszentrum für die Erforschung von Schwarmverhalten. Interdisziplinär werden drängende Fragen über Arten- und Organisationsebenen hinweg angegangen, von neuronalen Mechanismen über individuelle Wahrnehmung und Präferenzen bis hin zu kollektivem Verhalten in Gruppen oder ganzen Gesellschaften.
•Förderung: Europäischer Forschungsrat (ERC), Schweizerischer Nationalfonds (SNF), Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Max-Planck-Gesellschaft und Swedish Research Council
Hinweis an die Redaktionen:
Fotos können im Folgenden heruntergeladen werden:
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Bildunterschrift (Foto 1-3): Geierperlhühner leben demokratisch: Wer vorne läuft, entscheidet sich im Kollektiv.
Copyright (Foto 1-3): Damien Farine
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Tier / Land / Forst
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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