Chemische Forschung geschieht vielfach über Versuch und Irrtum. Im Labor läuft‘s oft anders als erwartet: die Reaktion stockt oder erbringt zu wenig Produkt. Wissen über die chemischen Eigenschaften der beteiligten Stoffe genügt dann nicht mehr. Stattdessen würden Chemiker gern tiefer in die Reaktion „hineinschauen“, auf die subatomare Ebene. Das gelingt auch ¬– mittels Hightech-Analytik. Und zunehmend ist auch die Quantenchemie gefragt, die allein durch Berechnung, z.B. des Verhaltens von Elektronen, kritische Momente im katalytischen Prozess aufdeckt. Am LIKAT in Rostock leitet Dr. habil. Olga Bokareva diese Arbeiten. Aktuelles Beispiel ist eine neuartige Diels-Alder-Reaktion.
Steigende Rechenleistung und immer bessere Algorithmen haben die Modellierung chemischer Reaktionen in der Forschung inzwischen unentbehrlich gemacht. „Vor allem dort, wo die Chemie neue Wege beschreitet, etwa um fossile Rohstoffe abzulösen und z.B. durch Abprodukte der Zivilisation zu ersetzen. Oder um das Anwendungsspektrum klassischer und bewährter Verfahren zu erweitern und für nachhaltige Prozesse zu nutzen“, sagt Olga Bokareva, Leiterin einer Nachwuchsgruppe am Leibniz-Institut für Katalyse.
Diels-Alder reloaded: effektiver mit Strom
Als aktuelles Beispiel nennt die Chemikerin die Diels-Alder-Reaktion. Die hat seit einem dreiviertel Jahrhundert einen festen Platz in der organischen Chemie, insbesondere bei der Synthese medizinischer Wirkstoffe und anderer komplexer Moleküle. Ihre Entdecker erhielten dafür 1950 den Nobelpreis.
Aktuell versuchen mehrere Labore, die Diels-Alder-Reaktion für weitaus komplexere Synthesen als bisher nutzbar zu machen. Am LIKAT gelang dies auf elektrochemischem Wege. Dr. Bokareva erklärt: „Dabei sorgen Elektroden in der Reaktionslösung für einen Stromfluss, der den Prozess antreibt und sehr viel effektiver macht, als bei der klassischen Diels-Alder-Reaktion.“
LIKAT-Direktor Prof. Dr. Robert Franke arbeitete dazu mit Kollegen aus Japan zusammen, und gemeinsam reichten sie ein Paper ein. Nun hatten ihre Experimente ergeben, dass die elektrochemische Diels-Alder-Reaktion mit bestimmten Ausgangsstoffen wunderbar funktioniert, mit anderen hingegen überhaupt nicht. Zu den Ursachen äußerten die Autoren Vermutungen. Doch das Fachmagazin bat um eine detaillierte mechanistische Aufklärung, und zwar mithilfe quantenchemischer Methoden.
An dieser Stelle kam die Expertise von Dr. Bokareva und ihrem Team ins Spiel. Eine Doktorandin, Yanan Han, übernahm die Arbeiten im Rahmen ihrer Dissertation.
Vergleichbar mit Google Maps
Um den Reaktionsmechanismus zu verstehen, berechnete das Team quantenchemisch die Energie der Moleküle entlang des Reaktionspfads. Dafür reicht es, Ausgangsstoff und Produkt sowie einige Angaben zu den Reaktionsbedingungen, wie die Temperatur, zu kennen. Dr. Bokareva vergleicht diesen Ansatz mit Google Maps: „Du kennst Standort und Ziel und willst Staus vermeiden, in der Reaktion könnte das ein unerwünschte Zwischenprodukt sein. Das Programm berechnet den günstigsten Weg.“
Solche quantenchemischen Berechnungen liefern keine exakten Werte, sondern Näherungen, erläutert Dr. Bokareva weiter. Der aktuelle Zustand einzelner Moleküle ergibt sich als Differenz zwischen ihren Energiezuständen. Der Grund liegt in der Quantennatur der Elektronen, die durch Wellenfunktionen beschrieben werden.
Die mathematischen Grundlagen für solche Berechnungen wurden vor rund hundert Jahren entwickelt, etwa die Schrödinger-Gleichungen, die Olga Bokareva und ihr Team zusammen mit numerischen Verfahren nutzt.
Elektronenwolken entscheiden über die Reaktion
Die Ergebnisse lassen sich heute grafisch darstellen, etwa als Orbitale, wie die Aufenthaltsorten der Elektronen im Atom heißen. Auf dem Bildschirm erscheinen sie als farbige Gebilde, die an schwebende Luftballons erinnern. „Wir sprechen oft von Elektronenwolken, wenn wir den diffusen Aufenthaltsraum von Elektronen meinen“, sagt Olga Bokareva. Solche Darstellungen würden helfen, Reaktionsverläufe nicht nur zu analysieren, sondern auch intuitiv zu verstehen. „Quantenchemie ist nicht nur anspruchsvoll, sie ist auch schön.“
Was zeigten die Berechnungen zur neuartigen Diels-Alder-Reaktion? „Wir konnten ein Zwischenprodukt identifizieren, das in einem kritischen Moment des Prozesses entsteht“, sagt Dr. Bokareva. Damit die Reaktion weiterlaufen kann, braucht dieses Zwischenprodukt ein zusätzliches Elektron. Diesen Elektronentransfer muss das System energetisch erlauben, und die Forscherinnen konnten dafür konkrete Voraussetzungen im Verhalten der Elektronenwolken nachweisen. Bei den problematischen Substraten fehlten diese Voraussetzungen, und die Reaktion brach ab.
Der Grund für die Störung ist also gefunden, der Nachweis wurde mittlerweile gemeinsam mit den Partnern aus Japan publiziert und ist jüngst online erschienen. Die Arbeit bietet nach den Worten von Dr. Bokareva Ansätze, auch die bisher nicht erfolgreichen Substrate für die elektrochemische Diels-Alder-Synthese nutzbar zu machen. Zum Beispiel, indem man die elektronische Struktur dieser Verbindungen oder auch die elektrochemischen Reaktionsbedingungen verändert.
Keine Männerdomäne mehr
Dass dieser Erkenntnisgewinn durch theoretische Arbeit möglich ist, mag erstaunlich klingen. Für Olga Bokareva ist es selbstverständlich, durch reines Rechnen und „echtes Teamwork rätselhafte experimentelle Befunde aufzuklären und verborgene Mechanismen sichtbar zu machen“. Das erfülle sie mehr als die Arbeit im Labor, die inzwischen viele Jahre zurückliegt.
Olga Bokareva wurde promoviert und habilitierte sich– und beide Male zur Theorie bzw. Quantenchemie, die lange Zeit stark männlich geprägt waren. Auch deshalb ist sie stolz, dass sich unter ihren Doktoranden vier Frauen befinden. Ihre Gruppe wächst stetig und bearbeitet aktuelle Fragestellungen an der Schnittstelle von Theorie und Anwendung.
Dr. Olga Bokareva: Olga.Bokareva@catalysis.de
https://doi.org/10.1039/D4CY01192A
Leitet die quantenchemischen Forschungen am Leibniz-Institut für Katalyse: Dr. habil. Olga Bokareva
Quelle: privat
Copyright: LIKAT
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Chemie, Mathematik
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).