Wie kann es gelingen, das Verhalten von Elementarteilchen und die Struktur des gesamten Universums mit denselben mathematischen Konzepten zu beschreiben? Diese Frage steht im Mittelpunkt der aktuellen Forschung der Mathematikerinnen Claudia Fevola vom Inria Saclay und Anna-Laura Sattelberger vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, die kürzlich in den Notices of the American Mathematical Society veröffentlicht wurde.
Auf den Punkt gebracht:
• Brückenschlag zwischen Mathematik und Physik: Die Arbeit untersucht, wie die algebraische Geometrie, gemeinsam mit einem der zentralen Konzepte im aufstrebenden Feld der positiven Geometrie, zu einer Vereinheitlichung physikalischer Phänomene - von subatomaren Teilchen bis hin zu Galaxien - beitragen kann.
• Mehr als Feynman-Diagramme: Die positive Geometrie bietet eine ergänzende Perspektive zu den klassischen Methoden der Quantenfeldtheorie und liefert einen geometrischen Rahmen zur Beschreibung von Teilchenwechselwirkungen, der Feynman-Diagramme sinnvoll ergänzt.
• Von Teilchenkollisionen bis zum Urknall: Werkzeuge aus der algebraischen Geometrie, der D-Modul-Theorie und der Kombinatorik treiben diesen interdisziplinären Fortschritt voran und tragen dazu bei, die grundlegenden Strukturen der Teilchenwechselwirkungen und die frühesten Zustände des Universums zu entschlüsseln.
Mathematik und Physik stehen in einer engen, wechselseitigen Beziehung. Die Mathematik stellt die Sprache und die Werkzeuge bereit, um physikalische Phänomene zu beschreiben, während die Physik wiederum die Entstehung neuer mathematischer Ideen vorantreibt. In Bereichen wie der Quantenfeldtheorie und der Kosmologie kommt diesem Zusammenspiel eine entscheidende Bedeutung zu, da sich hier komplexe mathematische Strukturen und physikalische Theorien gemeinsam weiterentwickeln.
In ihrem Artikel untersuchen die Autorinnen, wie algebraische Strukturen und geometrische Formen uns helfen können, Phänomene zu verstehen, die von Teilchenkollisionen - wie sie beispielsweise in Teilchenbeschleunigern auftreten - bis hin zur großräumigen Architektur des Kosmos reichen. Im Mittelpunkt ihrer Forschung steht die algebraische Geometrie. Ihre aktuellen Arbeiten knüpfen zudem an ein Forschungsfeld namens „positive Geometrie“ an – ein interdisziplinäres und neuartiges Gebiet der Mathematik, das von aktuellen Ideen aus der Teilchenphysik und Kosmologie motiviert ist. Dieses Forschungsfeld wurde durch das geometrische Konzept der positiven Geometrie, welches weit über den klassischen Zugang mittels Feynman-Diagrammen in der Teilchenphysik hinausreicht, inspiriert. Es beschreibt Wechselwirkungen als Volumina hochdimensionaler geometrischer Objekte, wie beispielsweise das Amplituhedron, das 2013 von den theoretischen Physikern Nima Arkani-Hamed und Jaroslav Trnka eingeführt wurde. Dieses Objekt besitzt eine reichhaltige kombinatorische Struktur und eröffnet einen alternativen und potenziell einfacheren Zugang zur Berechnung von Streuamplituden – aus denen sich die Wahrscheinlichkeiten für Streuprozesse ableiten lassen.
Dieser Ansatz hat weitreichende, über die Teilchenphysik hinausgehende Implikationen. In der Kosmologie nutzen Forschende das schwache Licht der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung sowie die Verteilung der Galaxien, um Rückschlüsse auf die Entstehung des frühen Universums zu ziehen. Ähnliche mathematische Werkzeuge kommen inzwischen auch hier zum Einsatz. So können beispielsweise kosmologische Polytope – die selbst spezielle Formen positiver Geometrie sind – Korrelationen im ersten Licht des Universums abbilden. Sie helfen dabei, die physikalischen Gesetze zu rekonstruieren, die der Entstehung des Kosmos zugrunde lagen.
Eine Geometrie für das Universum
Der Artikel betont, dass die positive Geometrie keine mathematische Randerscheinung ist, sondern eine potenzielle einheitliche Sprache für verschiedene Bereiche der theoretischen Physik. Diese geometrischen Rahmenwerke kodieren auf natürliche Weise den Informationsaustausch zwischen physikalischen Systemen, beispielsweise durch die Abbildung konkreter, sensorischer Konzepte auf abstrakte Strukturen – ein Prozess, der dem metaphorischen Verständnis der Welt durch den Menschen ähnelt.
Die zugrundeliegende Mathematik ist komplex und umfasst mehrere Fachgebiete. Die Autorinnen greifen dabei auf die algebraische Geometrie zurück, die Formen und Räume durch Lösungen von Systemen polynomieller Gleichungen beschreibt, auf die algebraische Analysis, die Differentialgleichungen mithilfe mathematischer Objekte namens D-Moduln untersucht, sowie auf die Kombinatorik, welche die Anordnungen und Wechselwirkungen innerhalb dieser Strukturen analysiert.
Die betrachteten mathematischen Objekte - darunter Feynman-Integrale, verallgemeinerte Euler-Integrale und kanonische Formen positiver Geometrien – sind weit mehr als reine Abstraktionen. Sie entsprechen beobachtbaren Phänomenen in der Teilchenphysik und Kosmologie und ermöglichen präzise Berechnungen sowohl des Teilchenverhaltens als auch kosmischer Strukturen.
Mathematik als Brücke zwischen den Skalen
Die Arbeit stellt einen Ansatz vor, der sowohl vielseitig anwendbar als auch skalierbar ist.
Streuprozesse werden häufig mithilfe von Feynman-Diagrammen veranschaulicht. Feynmans Ansatz zur Untersuchung von Streuamplituden lässt sich im Wesentlichen auf die Analyse komplexer Integrale zurückführen, die mit diesen Diagrammen verknüpft sind. Die algebraische Geometrie stellt ein breites Instrumentarium bereit, um derartige Integrale systematisch zu untersuchen.
Das Graphpolynom eines Feynman-Diagramms wird über die Spannbäume und -wälder des zugrunde liegenden Graphen definiert. Das zugehörige Feynman-Integral lässt sich als Mellin-Transformation einer Potenz dieses Graphpolynoms darstellen, wobei das Polynom als Funktion seiner Koeffizienten interpretiert wird. Diese Koeffizienten unterliegen jedoch Einschränkungen, die sich aus den zugrunde liegenden physikalischen Bedingungen ergeben. Feynman-Integrale sind daher eng mit verallgemeinerten Euler-Integralen verknüpft, insbesondere durch Einschränkungen auf die relevanten geometrischen Teilräume. Eine Möglichkeit, diese holonome Funktionen zu untersuchen, besteht darin, die linearen Differentialgleichungen zu betrachten, die sie erfüllen. Diese ergeben sich als D-Modul-theoretische inverse Bilder hypergeometrischer D-Moduln. Die explizite Konstruktion dieser Differentialgleichungen ist jedoch nach wie vor eine große Herausforderung. In der theoretischen Kosmologie nehmen Korrelationsfunktionen in vereinfachten Modellen ebenfalls die Form solcher Integrale an, wobei die Integranden aus Hyperebenenarrangements hervorgehen.
Das Komplement der durch das Graphpolynom definierten algebraischen Varietät im algebraischen Torus ist eine sehr affine Varietät. Das Feynman-Integral lässt sich als Paarung eines getwisteten Zykel mit einem getwisteten Kozykel dieser Varietät interpretieren. Deren geometrische und (ko-)homologische Eigenschaften spiegeln physikalische Konzepte wider – etwa die Anzahl der Master-Integrale. Diese Master-Integrale bilden eine Basis für den Raum der Integrale, wenn die kinematischen Parameter variieren und die Größe dieser Basis entspricht, zumindest im generischen Fall, der signierten topologischen Euler-Charakteristik der Varietät.
Forschungsfeld in Bewegung
Die Arbeit von Fevola und Sattelberger reflektiert eine internationale und interdisziplinäre Forschungsinitiative, die durch den ERC-Synergie-Grant UNIVERSE+ von Nima Arkani-Hamed, Daniel Baumann, Johannes Henn und Bernd Sturmfels gefördert wird. Sie vereint Mathematik, Teilchenphysik und Kosmologie und konzentriert sich dabei genau auf diese Verbindungen zwischen Algebra, Geometrie und theoretischer Physik.
„Positive Geometrie ist noch ein junges Forschungsfeld, doch es hat das Potenzial, die Grundlagenforschung in Physik und Mathematik nachhaltig zu beeinflussen“, betonen die Autorinnen. „Nun liegt es an der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die Details dieser neu entstehenden mathematischen Objekte und Theorien auszuarbeiten und zu validieren. Erfreulicherweise haben bereits mehrere erfolgreiche Kooperationen wichtige Grundlagen geschaffen.“
Die jüngsten Entwicklungen erweitern nicht nur unser Verständnis der physikalischen Welt, sondern verschieben auch die Grenzen der Mathematik selbst. Positive Geometrie ist mehr als nur ein Werkzeug. Sie ist eine Sprache. Eine Sprache, die unser Verständnis der Natur auf allen Ebenen vereinen könnte.
Dr. Claudia Fevola
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am INRIA Saclay, Palaiseau, Frankreich
E-Mail: claudia.fevola@inria.fr
https://claudiafevola.github.io
Dr. Anna-Laura Sattelberger
Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften
E-Mail: anna-laura.sattelberger@mis.mpg.de
https://alsattelberger.de/
Fevola, Claudia; Sattelberger, Anna-Laura: Algebraic & Positive Geometry of the Universe: from Particles to Galaxies, Notices of the American Mathematical Society, Volume 72, Number 8, Sept. 2025
https://www.ams.org/journals/notices/202508/noti3220/noti3220.html?adat=Septembe...
https://positive-geometry.com Informationen zum ERC Synergy Grant-Projekt UNIVERSE+: Positive Geometry in Particle Physics and Cosmology
Grafische Darstellung der Menge der reellen Nullstellen eines Graphpolynoms (Mitte) und zweier Fey ...
Copyright: Max -Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Mathematik, Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
Grafische Darstellung der Menge der reellen Nullstellen eines Graphpolynoms (Mitte) und zweier Fey ...
Copyright: Max -Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften
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