Satellitenbilder, soziale Medien oder Barcode-Scanner in Geschäften bieten einen reichen Datenschatz, der bisher in den Sozialwissenschaften noch wenig genutzt wird. Neue KI-gestützte Methoden helfen hier bei der Auswertung, sie erfordern jedoch viel IT-Knowhow und eine rechtliche und ethische Einordnung. Diese interdisziplinären Fachkenntnisse sollen jetzt in einem Kompetenzzentrum genannt „Societal Observatory Using Novel Data Sources (SOUNDS)“ gebündelt werden. Die Landesregierung fördert dies mit 29 Millionen Euro aus dem Transformationsfonds, um neben wissenschaftlichen Erkenntnissen auch konkrete wirtschaftliche Impulse für die Transformation der Saarwirtschaft zu schaffen.
In den Sozialwissenschaften basieren bisher viele Studien auf Umfragen in der Bevölkerung. Damit werden nicht nur politische und gesellschaftliche Einstellungen abgefragt, sondern beispielsweise auch das Kaufverhalten bei Konsumgütern oder Präferenzen für nachhaltige Produkte analysiert. „Wenn solche Umfragen qualitativ hochwertig, belastbar und langfristig angelegt sind, müssen die Daten dafür sehr kostspielig und zeitaufwändig erhoben werden“, erklärt Daniela Braun, Professorin für Politikwissenschaft der Saar-Universität. „Nicht zuletzt deshalb sind diese Erhebungen oft nur Momentaufnahmen, sie erlauben keine Echtzeitanalysen und helfen nicht dabei, neu entstehende, komplexe Phänomene oder Kipppunkte im System frühzeitig zu erkennen“, erläutert Ingmar Weber, Humboldt-Professor für Künstliche Intelligenz der Universität des Saarlandes.
Neuartige, oft frei verfügbare Datenquellen wie die Smartphone-Ortung in Mobilfunknetzen, Bewertungen auf Plattformen wie Google Maps oder laufend aktualisierte Satellitenbilder böten hier ganz andere Möglichkeiten. „Um diese unkonventionellen und oftmals unstrukturierten Daten auszuwerten, werden computergestützte Analysemethoden benötigt. Hier kommt die Informatik ins Spiel, die für die Naturwissenschaften bereits anspruchsvolle Algorithmen entwickelt hat. Diese müssen für sozialwissenschaftliche Fragestellungen noch angepasst werden und sollen neben der Sprachverarbeitung auch die Bildanalyse umfassen“, erklärt Ingmar Weber. „Da auch die Sozialwissenschaften bereits in diesem Bereich unter dem Stichwort ‚Computational Social Sciences‘ tätig geworden sind, ist nun aus unserer Sicht die Zeit für interdisziplinäre Forschungs- und Lehrkooperationen angebrochen, um wegweisende Erfolge zu erzielen“, fügt Daniela Braun hinzu. Aus diesem Grund haben sich Ingmar Weber und Daniela Braun bereits vor zwei Jahren zusammengetan und das „Interdisciplinary Institute for Societal Computing (I2SC)“ gegründet. Dort werden von Forscherinnen und Forschern aus der Informatik sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften computerbasierte Methoden genutzt, um soziale Phänomene zu erforschen.
So wie Astronomen bisher unbekannte Sterne und Planeten mit immer besseren Teleskopen entdecken, will das Saarbrücker Forschungsteam nun sogenannte digitale Sozioskope schaffen, also eine Art digitales Teleskop, das man auf die Gesellschaft richtet, um Veränderungen wahrzunehmen. „Die Datenquellen müssen dafür sorgfältig geprüft werden, damit man nicht gegen Datenschutzvorgaben verstößt und keine verzerrten Bilder entstehen, weil man Daten falsch miteinander verknüpft“, erklärt Ingmar Weber. „Wir haben etwa Bevölkerungsbewegungen in der Ukraine und Venezuela untersucht. In der Ukraine konnten wir auf Satellitenbildern beobachten, wo Autos plötzlich nicht mehr parken. In Venezuela haben wir die Abwanderung über Facebook-Profile verfolgen können“, nennt Ingmar Weber als Beispiel.
Das schafft auch neue Möglichkeiten für die Saarwirtschaft: Durch die Verknüpfung von Informatik und Gesellschaftsforschung entstehen Analysewerkzeuge, die sowohl die Privatwirtschaft wie auch die öffentliche Hand bei strategischen Entscheidungen unterstützen können, Marktpotenziale aufzeigen und Standortentwicklungen prognostizieren können. SOUNDS will so nicht nur Politik und Verwaltung datenbasiert beraten, sondern auch den Nährboden für Ausgründungen und innovative Geschäftsmodelle legen, die im Saarland Arbeitsplätze schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken: „Ein Möbelunternehmen im Saarland könnte daran interessiert sein, wie stark die Parkplätze der Konkurrenten belegt sind. Und Ladenbesitzer in Saarbrücken-Malstatt könnten sich fragen, ob Kunden wegen ihres Spezialangebots extra aus dem Rhein-Main-Gebiet anreisen und sich dort Werbung lohnen würde“, sagt der Forscher.
„Für die Gesellschaftswissenschaften sind die sozialen Medien inzwischen eine wichtige Datenquelle, um Gesellschaft und Politik zu untersuchen“, erklärt Daniela Braun. Für die neue Forschungsstelle SOUNDS sind sie zugleich ein zentrales Forschungsobjekt: „Spätestens im US-Wahlkampf wurde vielen klar, dass die sozialen Netzwerke eine große Bedrohung für die westlichen Demokratien darstellen. Ihre Algorithmen verstärken extreme politische Äußerungen und verbreiten ungeprüft Falschnachrichten“, warnt Humboldt-Professor Ingmar Weber. In interdisziplinären Forschungsteams wolle man daher untersuchen, ob dezentrale Strukturen von neuen Plattformen wie Bluesky hierfür weniger anfällig seien. Auch wolle man der Frage nachgehen, wo persönliche Daten besser geschützt seien – in der zentral kontrollierten Struktur eines monopolartigen Unternehmens oder in föderalen Netzwerken mit dezentralen, voneinander unabhängigen Instanzen.
Jakob von Weizsäcker, Minister der Finanzen und für Wissenschaft des Saarlandes, erhofft sich von der neuen Forschungsstelle wichtige Impulse für die Transformation des Saarlandes: „Das SOUNDS-Projekt wird als Denkfabrik, oder besser: als ‚Think-and-Do-Tank‘, nicht nur fundierte, datenbasierte Analysen liefern, sondern auch konkrete Lösungen entwickeln, die direkt in der Praxis genutzt werden können. Mit der Förderung aus dem Transformationsfonds verbinden wir exzellente Forschung mit wirtschaftlichem Nutzen: Unternehmen erhalten neue Werkzeuge für Markt- und Standortanalysen, Start-ups können aus innovativen Methoden neue Geschäftsmodelle entwickeln, und Politik und Verwaltung gewinnen präzise Entscheidungsgrundlagen. So stärkt SOUNDS die Wettbewerbsfähigkeit des Saarlandes und treibt die Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft voran.“
Auch Universitätspräsident Ludger Santen sieht große Chancen in der SOUNDS-Forschungsstelle: „Es werden nahezu alle Disziplinen, die sich mit gesellschaftlichen Phänomenen auf der Makroebene beschäftigen – von der Politikwissenschaft bis zur Makroökonomie – von diesem breit angelegten interdisziplinären Projekt profitieren. Die unkonventionellen Datenquellen und neuen Methoden, um diese Daten mit Verfahren des Maschinellen Lernens auszuwerten, werden diese Fachgebiete bereichern und den Erkenntnisgewinn enorm beschleunigen. Daraus werden sicherlich auch Geschäftsideen entstehen, die Start-ups und bestehenden Unternehmen im Saarland zum Erfolg verhelfen.“
In der Forschungsstelle SOUNDS werden zum einen der Fachbereich Informatik mit empirisch-quantitativ ausgerichteten Fachbereichen in den Sozial-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität des Saarlandes zusammenarbeiten. Darüber hinaus wird es eine strategische Partnerschaft mit dem Projekt „AI, Computing & Society” (AICS) geben, das vom Max-Planck-Institut für Softwaresysteme und der RPTU Kaiserslautern-Landau getragen wird. Mit der Förderung aus dem Transformationsfonds werden Professuren in zukunftsrelevanten Themen ausgeschrieben, die mittelfristig durch Umwidmung freiwerdender Lehrstühle gesichert werden. Diese strukturelle Stärkung der saarländischen Hochschullandschaft ist ein zentrales Ziel des Fonds, um neue exzellente Forschung und daraus resultierende Geschäftsfelder zu erschließen. Ergänzend entsteht ein Graduiertenkolleg und ein Zertifikatsprogramm für Societal Computing, das Studierende aus verschiedenen Fachbereichen in KI-Methoden, Datenanalyse und unternehmerischem Handeln qualifiziert.
Gegenüber dem nun bewilligten Trafo-Projekt SOUNDS haben bereits zahlreiche Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ihr Interesse für eine Zusammenarbeit bekundet, darunter die IHK Saarland, die Landeszentrale für politische Bildung, die Landesmedienanstalt, die Union Stiftung und das Adolf-Bender-Zentrum für Menschrechte und Demokratie. Weitere Informationen: www.i2sc.net
Ingmar Weber, Humboldt-Professor für Künstliche Intelligenz
Tel. 0681 302-70788
E-Mail: iweber@cs.uni-saarland.de
Daniela Braun, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt
Europäische Integration und Internationale Beziehungen
Tel. 0681 302-2352
E-Mail: d.braun@uni-saarland.de
Professor Dr. Ingmar Weber, Prof. Dr. Daniela Braun
Quelle: Thorsten Mohr
Copyright: Universität des Saarlandes/Thorsten Mohr
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