Ein Mangel an Schneefall beeinträchtigt selbst die stabilsten ‚Wassertürme‘ unserer Erde. Das zeigt eine aktuelle Studie der Pellicciotti Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Internationalen Forscher:innen gelang es nun mithilfe eines neuen Monitoring-Netzwerks auf einem Referenzgletscher in Zentral-Tadschikistan, das Verhalten des gesamten Einzugsgebiets von 1999 bis 2023 zu modellieren. Die Ergebnisse, die auf eine nachlassende Gletschergesundheit hindeuten, wurden in Communications Earth & Environment veröffentlicht.
Hochasien wird oft als dritter Pol bezeichnet, da es abgesehen von der Arktis und Antarktis über die größten Schmelzwasser-Reserven der Welt verfügt. In Zentralasien, im nordwestlichen Pamir-Gebirge in Tadschikistan, befinden sich einige der letzten scheinbar stabilen oder gar wachsenden Gletscher außerhalb der Polarregionen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion litt diese Region jedoch jahrzehntelang unter einem gravierenden Mangel an Beobachtungsdaten, bis neue Monitoring-Netze eingerichtet wurden.
Wissenschafter:innen aus der Forschungsgruppe von Francesca Pellicciotti, Professorin am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), haben gemeinsam mit lokalen Forscher:innen in Tadschikistan und Kooperationspartner:innen in der Schweiz, Österreich und Frankreich eine eigene Klimastation in einem Referenz-Einzugsgebiet im Pamir-Gebirge eingerichtet. Dies ermöglichte es ihnen, die Veränderungen des Gletschers über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg zu modellieren. Ihre erste gemeinsame Publikation liefert nun Hinweise darauf, dass der Gletscher wahrscheinlich 2018 seinen Wendepunkt erreicht hat.
„Weil es an Daten und zuverlässigen Prognosen für die Region fehlt, können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, ob dies der Punkt war, an dem es für die Pamir-Gletscher kein Zurück mehr gab“, erklärt der Erstautor der Studie, Achille Jouberton, Doktorand in der Pellicciotti Gruppe am ISTA. „Wir müssen bedenken, dass diese Studie nur ein bestimmtes Einzugsgebiet betrachtet und konkret den Zeitraum von 1999 bis 2023 abdeckt. Es handelt sich jedoch um die erste Studie dieser Art. Ähnliche Untersuchungen müssen diese Fragen auf einer größeren geografischen Ebene untersuchen.“
Eine Anomalie verstehen
Der Klimawandel hat weltweit erhebliche Auswirkungen auf Gletscher. Während die Gletscher in den Alpen, den Anden und anderen Regionen der Welt in rasantem Maße schmelzen, sind einige Gletscher im zentralasiatischen Pamir- und Karakorum-Gebirge überraschend stabil und scheinen sogar zu wachsen. Dieses unerwartete und kontraintuitive Verhalten der Gletscher wird als die ‚Pamir-Karakorum-Anomalie‘ bezeichnet. „Zentralasien ist eine halbtrockene Region, die in hohem Maße von Schnee und Eisschmelze für die Wasserversorgung flussabwärts abhängig ist“, erklärt ISTA Professorin Pellicciotti. „Doch wir verstehen die Ursachen für diesen anomalen Zustand der Gletscher noch nicht ganz.“ Handelt es sich hierbei angesichts des Klimawandels um die letzten widerstandsfähigen Gletscher?
Das Team entschied sich, seine Beobachtungsstation auf dem Kyzylsu-Gletscher im nordwestlichen Pamir in Zentral-Tadschikistan einzurichten. Diese Klimastation liegt auf einer Höhe von knapp 3400 Metern über dem Meeresspiegel in einem Land, dessen halbes Territorium auf über 3000 Metern liegt. „Aufgrund der verschiedenen Beobachtungsstationen, die kürzlich auf und um den Gletscher herum eingerichtet wurden, entwickelt sich Kyzylsu zu einem Referenzstandort für die Überwachung“, erklärt Jouberton. Dort wollen die Forschenden beginnen, Licht in das anomale Verhalten der Gletscher in der Region zu bringen.
„Die Herausforderung besteht darin, dass es fast keine Daten gibt.“
Seit der Einrichtung ihres Monitoring-Netzwerks im Einzugsgebiet des Kyzylsu im Jahr 2021 hat das Team umfangreiche Daten über Schneefall und Wasserressourcen in der Region gesammelt. Anhand dieser Beobachtungen und Daten aus Klima-Reanalysen konnten sie das Verhalten des Gletschers von 1999 bis 2023 simulieren. „Wir haben das Klima des Einzugsgebiets, die Schneedecke, die Massenbilanzen der Gletscher und die Wasserbewegungen modelliert“, erklärt Jouberton. „Aber egal, wie wir das Modell analysierten, wir sahen spätestens 2018 einen signifikanten Wendepunkt. Seitdem hat der Rückgang der Schneefälle das Verhalten des Gletschers verändert und seinen Zustand beeinträchtigt.“ Tatsächlich hat die Gletscherschmelze zugenommen und etwa ein Drittel der durch den Rückgang der Niederschläge verlorenen Wasserressourcen kompensiert. Damit scheint die anomale Phase der relativen Stabilität des Gletschers angesichts des Klimawandels zu Ende zu sein.
Die Wissenschafter:innen verwendeten Rechenmodelle, die auf ihren entscheidenden neuen lokalen Beobachtungen basieren. Beobachtungsdaten allein hätten jedoch nicht ausgereicht, um alle Fragen zu beantworten, selbst wenn sie dicht genug gewesen wären. „Wir brauchen für unsere Arbeit ohnehin Modelle und Simulationen, vom Talboden bis zum Gipfel des Gletschers. Selbst in Europa und Kanada, wo die Messnetze viel dichter sind, bleiben Klimastationen nur kleine, örtlich begrenzte Punkte auf der Karte“, so Jouberton. „Die Herausforderung in der Pamir-Region besteht jedoch darin, dass es fast keine Daten gibt.“ Daher müssen die Forscher:innen das Beobachtungsnetz verdichten. „Angesichts all dieser Herausforderungen sind wir uns nicht sicher, wie präzise die Eingaben in das Modell sind. Da es jedoch im Vergleich zu unabhängigen Beobachtungen gut funktioniert hat, sind wir von den Ergebnissen ziemlich überzeugt. Unsere Arbeit ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.“
Rucksäcke voller wertvoller Ausrüstung
Seit Beginn der Zusammenarbeit im Jahr 2021, als die Pellicciotti Gruppe noch an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in der Schweiz ansässig war, haben die Forscher:innen Tadschikistan siebenmal besucht. „Jeden Sommer planten wir Exkursionen mit den lokalen Forschungsinstituten in Duschanbe und sind mit unseren Rucksäcken voller wertvoller Ausrüstung in abgelegene Berge gewandert, um dort unsere Zelte aufzuschlagen. Die enge Zusammenarbeit mit lokalen Wissenschafter:innen bei den Exkursionen fördert nicht nur den wissenschaftlichen Austausch, sondern hilft uns auch, die Sprachbarriere im Umgang mit den Einheimischen zu überwinden, die auf das Wasser der Gletscher angewiesen sind“, so Jouberton.
2025 markiert einen Meilenstein, da die Exkursion in diesem Sommer die letzte im Rahmen der aktuellen Förderperiode des Projekts war. Zu den diesjährigen Zielen gehörte die Aktualisierung und Automatisierung der Überwachungsnetze, um sicherzustellen, dass sie auch in den kommenden Jahrzehnten funktionsfähig bleiben. Indem sie auch wichtiges Wissen über die Wartung der Geräte an die Einwohner:innen vor Ort weitergaben, hoffen sie, ihre Arbeit nachhaltiger zu gestalten und die Häufigkeit der Exkursionen zu reduzieren. Bislang mussten sie anreisen, um die internen Batterien der Geräte auszutauschen, die Funktionsfähigkeit der Stationen zu gewährleisten und ihre Daten mit USB-Sticks zu sammeln.
Bedeutende lokale Auswirkungen
Die Forschung des Teams basiert auf einer engen Zusammenarbeit mit den Einheimischen. „Die Hirt:innen kennen uns. Sie sehen uns jedes Jahr und laden uns oft zum Mittagessen ein. Sie wissen, wo wir unsere Stationen aufstellen, und tun ihr Bestes, damit die Messungen nicht gestört werden“, so Jouberton. Das Team bespricht die Daten mit ihnen, tauscht Informationen aus und arbeitet in der Wildnis, umgeben von ihren Kindern und ihrem Vieh. Häufig berichten die Einheimischen von Ereignissen, die sich in den Bergen zugetragen haben. „Es beeindruckt uns sehr, wenn die Hirt:innen uns von Dingen erzählen, die wir nur in den Satellitendaten beobachten konnten. Das verleiht unserer Arbeit eine reale und persönliche Dimension.“
Das Einzugsgebiet des Kyzylsu mündet in das Flussgebiet des Amu Darya, einen der größten Flüsse Zentralasiens, dessen Wasser fast ausschließlich aus Gletschern stammt. Der Amu Darya ist auch ein ehemaliger Zufluss des heute weitgehend ausgetrockneten Aralsees. Dieses Binnenmeer leidet seit Jahrzehnten unter der Umleitung seiner beiden Hauptzuflüsse: Der Amu Darya im Süden und der Syr Darya im Nordoste werden genutzt, um Baumwollfelder zu bewässern, die während der Sowjetzeit in der Wüste angelegt wurden. „Die Auswirkungen der Gletscher sind jedoch in ihren unmittelbaren Ökosystemen am stärksten“, betont Jouberton. „Auch wenn der Kyzylsu-Gletscher und wahrscheinlich auch andere Pamir-Gletscher schneller zu schmelzen scheinen und mehr Wasser in das System einbringen, ist es unwahrscheinlich, dass sie den Aralsee wieder auffüllen werden.“
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Die aktuelle Studie wurde von Forscher:innen der Pellicciotti Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), zuvor am Schweizerischen Eidgenössischen Forschungsinstitut WSL, durchgeführt in Zusammenarbeit mit Wissenschafter:innen des Instituts für Umwelttechnik, ETH Zürich, Schweiz, der Universität Zürich, Departement für Geografie, Glaziologie und Geomorphodynamik, Schweiz, dem Departement für Geowissenschaften der Universität Freiburg, Schweiz, dem Institut des Géosciences de l'Environnement, Université Grenoble-Alpes, CNRS, IRD, Frankreich, dem Department of Atmospheric and Cryospheric Sciences der Universität Innsbruck, Österreich, dem Geophysikalischen Institut der Universität Alaska Fairbanks, USA, dem Zentrum für Gletscherforschung der Tadschikischen Akademie Tadschikistans, Duschanbe, Tadschikistan, und dem Mountain Societies Research Institute der University of Central Asia, Duschanbe, Tadschikistan.
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Projektförderung:
Dieses Projekt wurde durch Mittel aus dem Schweizerischen Nationalfonds (ASCENT-Projekt 189890, HOPE-Projekt 183633 und ein Postdoc-Mobilitätsprogramm im Rahmen der Fördervereinbarung P500PN_210739), dem Europäischen Forschungsrat (ERC Consolidator Grant Nr. 772751) und dem Flaggschiffprogramm PAMIR des Schweizerischen Polarinstituts (SPI-FLAG-2021-001) finanziert.
Achille Jouberton, Thomas E. Shaw, Evan Miles, Marin Kneib, Stefan Fugger, Pascal Buri, Michael McCarthy, Abdulhamid Kayumov, Hofiz Navruzshoev, Ardamehr Halimov, Khusrav Kabutov, Farrukh Homidov & Francesca Pellicciotti. 2025. Snowfall decrease in recent years undermines glacier health and meltwater resources in the Northwestern Pamirs. Communications Earth & Environment. DOI: 10.1038/s43247-025-02611-8
https://doi.org/10.1038/s43247-025-02611-8
https://www.nature.com/articles/s43247-025-02611-8
https://ista.ac.at/de/forschung/pellicciotti-gruppe/ Forschungsgruppe "Kryosphäre und Gebirgshydrosphäre" am ISTA
Hauptquartier der Forscher:innen. Basislager nördlich des Maidakul-Sees, in der Nähe des Kyzylsu-Gle ...
Copyright: © Marin Kneib/ISTA
Wartung der Klimastation. Die Studienautoren Thomas Shaw und Achille Jouberton warten die Niederschl ...
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Geowissenschaften, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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