Bei Personen mit erhöhtem Risiko für eine Alzheimer-Demenz kann die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung beeinträchtigt sein. Zu diesem Schluss kommen Forschende des DZNE anhand einer Studie mit rund 100 älteren Erwachsenen, die ihre Position innerhalb einer virtuellen Umgebung bestimmen mussten. Dabei schnitten Probanden mit „subjektiven kognitiven Beeinträchtigungen“ (SCD) – ein Risikofaktor für eine Alzheimer-Erkrankung – schlechter ab als die Mitglieder der Vergleichsgruppe. In konventionellen Tests der kognitiven Leistungsfähigkeit gab es indes keine auffälligen Unterschiede.
Vor diesem Hintergrund könnten die im Fachjournal „Science Advances“ veröffentlichen Forschungsergebnisse den Weg für empfindlichere Testverfahren bereiten. Die Frühdiagnostik von Alzheimer und Medikamentenstudien sind mögliche Anwendungsfelder.
Wenn das Gedächtnis nach eigenem Empfinden nachlässt, gängige Tests jedoch keine Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit feststellen, dann spricht man von „subjektiven kognitiven Beeinträchtigungen“ (englisch „Subjective Cognitive Decline“, kurz SCD). „Diese Symptomatik steht seit einigen Jahren im Fokus der Forschung. Denn Personen mit SCD haben erwiesenermaßen ein erhöhtes Risiko, im späteren Leben eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln“, erläutert Prof. Thomas Wolbers, Forschungsgruppenleiter am DZNE-Standort Magdeburg und Mitglied im Sonderforschungsbereich „Neuronale Ressourcen der Kognition“. „Die Vermutung liegt also nahe, dass SCD auf ein präklinisches Stadium von Alzheimer hindeuten kann.“
Neuartiger Ansatz
In der aktuellen Studie erprobte das Team um den Magdeburger Neurowissenschaftler einen Ansatz zur Erkennung kognitiver Störungen, der über die herkömmlichen Testverfahren hinausgeht. Fachleute aus den USA und Tschechien wirkten daran mit. Dabei wurde die sogenannte Pfadintegration erfasst: Darunter versteht man die Fähigkeit zur Positionsbestimmung und räumlichen Navigation aufgrund des Körpergefühls und der Wahrnehmung der eigenen Bewegung. „Wir Menschen nutzen dafür spezielle neuronale Schaltkreise. Diese liegen in einem Hirnbereich namens entorhinaler Cortex. Wir tragen also gewissermaßen einen Kompass im Kopf“, sagt Wolbers. Eine Alzheimer-Erkrankung erreicht dieses Areal typischerweise schon im sehr frühen Stadium – noch bevor sich Symptome von Demenz bemerkbar machen. „Damit schließt sich der Kreis zu unserer aktuellen Studie. Soweit mir bekannt ist, zeigen unsere Befunde erstmals, dass SCD mit subtilen Orientierungsprobleme einhergehen kann. Wir hoffen damit den Grundstein für neuartige Testverfahren zu legen, die sehr frühe Auswirkungen einer Alzheimer-Erkrankung erkennen“, so Wolbers.
Welt ohne Fixpunkte
Die Studie umfasste 102 ältere Frauen und Männer im Alter zwischen 55 und 89 Jahren – 30 davon mit SCD. Bei herkömmlichen Kognitionstests lagen allerdings alle Probanden im Normbereich. Für das eigentliche Experiment trugen sie sogenannte Virtual-Reality-Brillen. Damit ausgestattet, gingen sie durch einen realen Raum und bewegten sich dabei gleichzeitig auch durch eine computergenerierte Umgebung: Sie sahen eine weite Ebene ohne jegliche Landmarken unter einem blauen Himmel. Die unregelmäßige Textur des Bodens ermöglichte es ihnen jedoch, ihre Bewegungen durch die digitale Landschaft wahrzunehmen. „Da es in dieser virtuellen Welt keine visuellen Fixpunkte gab, konnte man sich nur mithilfe des Navigationssystems im Gehirn orientieren. Genau diese Fähigkeit wollten wir auf die Probe stellen“, sagt Dr. Vladislava Segen, Erstautorin der aktuellen Veröffentlichung und Mitglied in Wolbers‘ Forschungsteam.
Der „Hirn-Kompass“ auf dem Prüfstand
Die Aufgabe begann damit, einem in Bodennähe schwebenden Ball hinterherzulaufen, der sich auf einer kurvigen Flugbahn bewegte, bis dieser schließlich anhielt. Hatten die Probanden den Ball eingeholt, sollten sie sich in Richtung ihres ursprünglichen Startpunkts drehen und dessen vermutete Position markieren. Dafür nutzten sie einen virtuellen Zeigestock, der sich über einen Handcontroller bedienen ließ. Die Probanden wurden außerdem gebeten, sich in die Richtung zu drehen, in die sie ganz zu Beginn ihres Weges geblickt hatten. „Damit haben wir getestet, wie gut sich die Probanden ihre Ausgangsorientierung merken konnten“, so Segen. Danach flog der Ball weiter bis zum nächsten Stopp, an dem die verschiedenen Aktionen wiederholt werden mussten. Pro Durchgang gab es zwei Stopps, wobei die zurückgelegte Gesamtstrecke im realen Raum jeweils etwa sechs Meter betrug. Alle Beteiligten absolvierten rund 70 solcher Durchläufe. Dadurch konnten umfangreiche Daten über die Bewegungen der Probanden und die Genauigkeit, mit der sie die ihre Orientierungsaufgaben ausführten, erfasst werden.
Mit SCD weniger präzise
„Diese Aufgaben fielen manchen leichter, anderen weniger. Sie waren sicherlich anspruchsvoll. Generell zeigte sich ein deutlicher altersbedingter Effekt. Die ältesten Personen machten dabei die größten Fehler. Das galt unabhängig davon, ob SCD vorlag oder nicht“, sagt Segen. „Macht man aber den Gruppenvergleich, so zeigt sich, dass Probanden mit SCD insgesamt schlechter abschnitten. Sie waren bei der Pfadintegration weniger präzise. Unsere Daten deuten darauf hin, dass diese Orientierungsschwierigkeiten nicht aus der Bewegungsdynamik entstanden, also wie schnell man sich fortbewegte oder ob man beim Gehen häufiger auf den Boden schaute. Die Ursachen der unpräzisen Orientierung waren nicht motorischer, sondern kognitiver Natur.”
Tiefere Einblicke durch mathematische Modellierung
Um den Ursachen dieser Beeinträchtigung näher auf den Grund zu gehen, nutzte das Forschungsteam eine komplexe mathematische Modellierung der gesammelten Daten. „Für eine Bestimmung der eigenen Position muss das Gehirn verschiedene Informationen verarbeiten. Dazu gehört etwa die korrekte Wahrnehmung der Geschwindigkeit, mit der man sich fortbewegt und auch die Richtung, in die man geht. Mit Hilfe unseres Modells konnten wir nachvollziehen, welche Fehlerquellen die Positionsbestimmung am stärksten verfälschten und welche nur geringen Einfluss hatten“, so Segen. Ein Faktor stach hervor, sein Einfluss auf die Positionsgenauigkeit unterschied sich deutlich zwischen den beiden Studiengruppen. „Um die eigene Lage im Raum zu bestimmen, während man sich fortbewegt, muss man seine Position gedanklich immer wieder aktualisieren. Dazu ist es nötig, sich an frühere Positionen zu erinnern. Dafür greift man unbewusst auf eine gedankliche Historie zurück. Bei den Menschen mit SCD war diese Art der Erinnerung besonders fehlerhaft. Wir sprechen deshalb von einem Memory Leak. Wir vermuten, dass Funktionsstörungen im entorhinalen Cortex dafür verantwortlich sind“, erläutert Segen.
Klinische Bedeutung und Perspektiven
Im entorhinalen Cortex gibt es spezielle Nervenzellen, sogenannte Gitterzellen. Sie generieren anhand von Sinneseindrücken eine Art Koordinatensystem für die Umgebung, in der sich ein Mensch gerade befindet. Studien anderer Forschungsgruppen deuten darauf hin, dass diese neuronalen Schaltkreise eine Historie früherer, aufeinanderfolgender Standorte im Gedächtnis ablegen – ähnlich der Bilderfolge eines Daumenkinos. „Die Evidenz konvergiert dahin, dass die Pfadintegration sehr sensitiv ist für Funktionsstörungen der Gitterzellen und damit für präklinische Stadien einer Alzheimer-Erkrankung“, so Thomas Wolbers. Die Forschenden möchten ihren experimentellen Aufbau daher weiterentwickeln, damit dieser in klinischen Studien eingesetzt werden kann. „Ich denke dabei zum Beispiel an die Erprobung neuer Medikamente. Bei der Bewertung der Effekte neuartiger Wirkstoffe könnte die Pfadintegration bisherige Ansätze ergänzen – für ein detaillierteres Gesamtbild“, sagt Wolbers. „Langfristig sehe ich auch Potenzial für die klinische Routine, konkret in der Frühdiagnostik von Alzheimer. Dafür muss dieses Verfahren aber zunächst weiter erprobt und vereinfacht werden. Außerdem wollen wir unsere Ergebnisse mit Biomarkern für Alzheimer aus Blut oder Nervenwasser abgleichen. Das sollte weitere Einblicke in die Fähigkeit unseres Ansatzes geben, Neurodegeneration zu detektieren.“
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Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): Das DZNE ist eines der weltweit führenden Forschungszentren für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Diese Erkrankungen bedeuten enorme Belastungen für Betroffene und ihre Angehörigen, aber auch für die Gesellschaft und Gesundheitsökonomie. Das DZNE trägt maßgeblich zur Entwicklung neuer Strategien der Prävention, Diagnose, Versorgung, Behandlung und Pflege bei – und zu deren Überführung in die Praxis. Es hat bundesweit zehn Standorte und kooperiert mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das DZNE wird staatlich gefördert, es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung: https://www.dzne.de
Path integration impairments reveal early cognitive changes in Subjective Cognitive Decline, Vladislava Segen et al., Science Advances (2025), DOI: 10.1126/sciadv.adw6404, URL: https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adw6404
https://www.dzne.de/en/news/press-releases/press/misdirected-increased-dementia-... Englische Fassung dieser Meldung
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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