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09.09.2025 14:02

Die Überlebensstrategie des „Einfrierens“ bei der Flucht vor einem Raubtier

Beatriz Lucas Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen

    Wenn Caenorhabditis elegans, ein Modellorganismus aus der Familie der Fadenwürmer, in den klebrigen Fallen des räuberischen Pilzes Arthrobotrys oligospora gefangen wird, stellt er schnell seine Bewegung und Nahrungsaufnahme ein und geht in einen schlafähnlichen Ruhezustand über. Forschende haben die Nervenschaltkreise und molekularen Signalwege hinter dieser drastischen Verhaltensänderung aufgedeckt und dabei einen ausgeklügelten Mechanismus enthüllt, der für die Interaktionen zwischen Raubtier und Beute von entscheidender Bedeutung sein könnte.

    Auf den Punkt gebracht
    1. Raubtierinduziertes „Einfrier“-Verhalten: Caenorhabditis elegans wird vom räuberischen Pilz Arthrobotrys oligospora gefangen und löst nach einem anfänglichen Kampf einen schlafähnlichen Zustand aus, bis er aufhört, sich zu bewegen und zu fressen.

    2. Sensorische und Signalmechanismen: Dieses Verhalten wird durch die mechanosensorischen Neuronen vermittelt, die Berührung wahrnehmen. Sie aktivieren die schlaffördernden Neuronen ALA und RIS sowie die EGFR-Signalübertragung im Gehirn. Die mechanosensorischen Neuronen und die Signalwege des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptors (EGFR) sind entscheidend für die durch die Pilzfalle ausgelöste Ruhephase.

    3. Ökologische und evolutionäre Erkenntnisse: Diese Ergebnisse zeigen, wie Beutetiere mechanosensorische und schlafbezogene Nervenbahnen integrieren, um auf den Stress der Prädation zu reagieren. Die Erkenntnisse liefern einen neuen Blick auf die Koevolution von Raubtier und Beute.

    Wenn der Fadenwurm Caenorhabditis elegans von seinem räuberischen Pilz Arthrobotrys oligospora gefangen wird, windet er sich nicht nur endlos, sondern „friert“ plötzlich ein und stoppt alle Bewegungen und die Nahrungsaufnahme, als würde er in eine tiefe Ruhephase übergehen. Die Studie der Academia Sinica in Taiwan und des Max-Planck-Instituts für Biologie in Tübingen untersuchte die neuronalen und molekularen Mechanismen, die diesem Verhalten zugrunde liegen. Sie enthüllte, wie der Tastsinn des Wurms und ein wichtiges Signalsystem im Gehirn zusammenarbeiten, um diese „Einfrier“-Reaktion auszulösen.

    „Dieses auffällige Verhalten zwischen C. elegans und den Fadenwurm-fangenden Pilzen hat sofort unsere Aufmerksamkeit erregt und unsere Untersuchung ausgelöst“, sagt die leitende Forscherin Yen-Ping Hsueh und Direktorin der Abteilung für komplexe biologische Wechselwirkungen. „Wir sahen, wie die Würmer anfangs 15 bis 20 Minuten lang unerbittlich kämpften, nachdem sie gefangen wurden, und dann plötzlich aufhörten, als hätten sie ,aufgegeben‘. Das veranlasste uns, die zugrunde liegenden Nervensysteme zu untersuchen, die an dieser ,Einfrier‘-Reaktion beteiligt sind.“

    Das Forschungsteam nutzte die einzigartigen Vorteile des Fadenwurms C. elegans für die Untersuchung der Dynamik von Raubtier und Beute. Dies dank seines einfachen Nervensystems, seiner Transparenz, seiner bekannten Genetik und seines kurzen Lebenszyklus. Er ist wohl die am besten charakterisierte Tierart der Erde und ein leistungsstarkes Werkzeug zur Untersuchung der molekularen, genetischen und verhaltensbezogenen Mechanismen von Überlebensstrategien als Reaktion auf Prädation. So konnte das Team die beteiligten Neuronen und Signale präzise untersuchen.

    Die grundlegende Verhaltensbeobachtung von stressinduziertem Schlaf als Reaktion auf Prädation wurde bereits in den 1960er Jahren beschrieben. „Die wahre Chance ergab sich, als sowohl der Wurm als auch der Pilz dank der Genetik leicht zu untersuchen waren. So konnten wir endlich in beide Seiten dieser Raubtier-Beute-Geschichte eintauchen“, erklärte der Erstautor Tzu-Hsiang Lin.

    Erforschung der neuronalen Mechanismen hinter Überlebensstrategien

    Das Team fand heraus, dass C. elegans spezifische schlaffördernde Gehirnzellen, die sogenannten ALA- und RIS-Neuronen, aktiviert, um den Ruhezustand herbeizuführen. Entscheidend dabei ist, dass dieser Prozess von den mechanosensorischen Neuronen des Fadenwurms abhängt, die den physischen Reiz des Gefangenwerdens wahrnehmen. Außerdem ist ein epidermaler Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR)-Signalweg beteiligt, der bereits von anderen Stressreaktionen bekannt ist.

    Dieses „Einfrieren“ ist nicht irgendeine Art von Ruhe. „Es ist eine einzigartige Auslösung eines schlafähnlichen Zustands, der durch das physische Gefangenwerden durch ein Raubtier verursacht wird“, erklärt Tzu-Hsiang Lin. „Der Wurm verwendet dasselbe EGFR-Alarmsystem auch bei anderen Gefahren, wie Verletzungen oder Überhitzung. Es wird durch das physische Gefangenwerden aktiviert. Der Wurm spürt die Falle durch Berührung und sendet dann ein Signal an das Gehirn, das ihn dazu bringt, die Bewegung einzustellen, fast wie beim Einschlafen.“

    Die Ergebnisse verdeutlichen, wie uralte und vielseitige Überlebensstrategien auf zellulärer Ebene erhalten bleiben. „Die Zusammenarbeit von Mechanosensation und EGFR-Signalgebung zeigt, wie Tiere Raubtiere sorgfältig erkennen und mit komplexen Verhaltensweisen auf sie reagieren“, fügt Hsueh hinzu. „Dies eröffnet ein neues Fenster, wie Gehirne externe Bedrohungen mit internen Zuständen wie dem Schlaf integrieren.“

    Auf die Frage nach den nächsten Schritten sagte Lin: „Wir wollen ein paar Fragen beantworten: Wem hilft das Einfrieren? Wir müssen herausfinden, ob dieses Verhalten dem Wurm tatsächlich beim Überleben hilft oder ob es dem Pilz nur hilft, seine Mahlzeit zu bekommen. Was ist der Auslöser? Wir sind daran interessiert, welche anderen Signale oder Chemikalien an dieser Immobilisierungsreaktion beteiligt sein könnten. Ist dieses Verhalten universell? Wir wollen sehen, ob andere Fadenwürmer einfrieren, wenn sie von verschiedenen räuberischen Pilzen gefangen werden. Das wird uns zeigen, ob es sich um eine gängige Strategie handelt. Wenn einige Würmer anders reagieren, wollen wir verstehen, warum und was sie mehr oder weniger anfällig für das „Einfrieren“ macht.“
    Diese Forschung deckt nicht nur auf, wie sich Fadenwürmer an tödliche Pilzfallen anpassen, sondern bereichert auch unser Verständnis von Schlaf- und Stressreaktionen über Spezies hinweg. Sie veranschaulicht, wie selbst die kleinsten Tiere ausgeklügelte Strategien entwickeln, um zu überleben und zu gedeihen.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Direktor
    Abteilung für Komplexe biologische Wechselwirkungen
    Dr. Yen-Ping Hsueh
    ping-hsueh@tuebingen.mpg.de

    Pressereferentin
    Beatriz Lucas
    presse-bio@tuebingen.mpg.de


    Originalpublikation:

    Lin, T.-H., Chang, H.-W., Tay, R. J., & Hsueh, Y.-P. (2025). Predation by nematode-trapping fungus triggers mechanosensory-dependent quiescence in Caenorhabditis elegans. iScience, 28, 112792. https://doi.org/10.1016/j.isci.2025.112792


    Weitere Informationen:


    https://www.bio.mpg.de/480849/news_publication_25362937_transferred
    https://keeper.mpdl.mpg.de/d/5798c97764fa4924a9d1/
    https://www.bio.mpg.de/406848/complex-biological-interactions


    Bilder

    Die Überlebensstrategie des „Einfrierens“ bei der Flucht vor einem Raubtier
    Die Überlebensstrategie des „Einfrierens“ bei der Flucht vor einem Raubtier

    Copyright: © Tzu-Hsiang Lin / Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
    Biologie, Medizin, Tier / Land / Forst, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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