Die Lasker Foundation ehrt Dirk Görlich, Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, und Steven McKnight, Professor am University of Texas Southwestern Medical Center (USA), für die Entschlüsselung der Funktionsweise von Proteinsequenzen mit geringer Komplexität. Die Forscher deckten neue Prinzipien des intrazellulären Transports und der zellulären Organisation auf, begründete die Lasker Foundation die Verleihung. Der Lasker-Preis gilt als die höchste wissenschaftliche Auszeichnung der USA im Bereich der Biomedizin und ist mit 250.000 US-Dollar dotiert. Er wird am 19. September 2025 in New York (USA) überreicht.
Proteine bewegen unsere Muskeln, katalysieren als Enzyme biochemische Reaktionen oder wehren Krankheitserreger ab. Um das zu leisten, müssen sich typische Proteine erst in eine passende dreidimensionale Form falten. Rund 30 Prozent der menschlichen Proteinsequenzen falten sich allerdings nie, sondern bleiben intrinsisch ungeordnet. Sie enthalten auch weniger Buchstaben des Aminosäurealphabets und werden daher auch als Regionen geringer Komplexität (englisch: low complexity regions, LCRs) bezeichnet. Ungeordnete LCRs sind Teil des sogenannten „dunklen Proteoms“. Unter diesem Begriff werden Proteine oder Regionen von ihnen zusammengefasst, die keine definierte 3D-Struktur besitzen oder deren 3D- Strukturen noch unbekannt sind. In mutierter Form können LCRs zu schweren neurodegenerativen Erkrankungen wie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und Huntington beitragen. Wie und wozu LCRs von gesunden Zellen genutzt werden, lag lange im Dunkeln.
Smarte Logistik
„Wir haben herausgefunden, wie bestimmte LCRs als ‚smarte Knotenpunkte‘ der zellulären Logistik fungieren. Unverhofft haben wir damit auch wichtige Funktionsprinzipien des bisher wenig verstandenen dunklen Proteoms entschlüsselt“, erklärt Görlich. „Dass unsere Erkenntnisse nun mit dem Lasker-Preis ausgezeichnet werden, ist eine großartige Auszeichnung für unser gesamtes Team und eine wunderbare Anerkennung unserer Forschungsarbeiten, die einen langen Atem brauchten.“
Der Max-Planck-Direktor erforscht mit seinem Team, wie Zellen das logistische Problem lösen, zehntausende verschiedener Proteine korrekt entweder in den Zellkern hinein oder aus diesem heraus ins Zytoplasma zu transportieren und gleichzeitig unerwünschten Molekülen den Zutritt zu verwehren. Das „Drehkreuz“ zwischen dem Zellkern und dem Zytoplasma, der sogenannte Kernporenkomplex, ist eine der effizientesten Proteintransportmaschinen der Natur.
Dieser Kernporenkomplex weist eine rätselhafte funktionelle Besonderheit auf: Er ist für die meisten Makromoleküle undurchlässig. Eine bestimmte Klasse von Proteinen wird jedoch in den Kanal des Kernporenkomplexes regelrecht hineingesogen und auf der anderen Seite wieder freigesetzt. Das kann sehr schnell geschehen – bis zu tausend Mal pro Pore und Sekunde. Wie Görlichs Team maßgeblich mit aufdeckte, handelt es sich dabei um Transporter, sogenannte Importine und Exportine, die makromolekulare Fracht zwischen dem Zellkern und Zytoplasma befördern.
„Intelligente“ Barriere am Zellkern
Ihre Funktion als hochleistungsfähige Transportmaschinen erfüllen Kernporenkomplexe dank eines besonderen Materials: Görlich und sein Team entdeckten, dass sich die eigentlich ungeordneten LCR-Bereiche bestimmter Kernporenproteine – FG-Domänen genannt – zusammenlagern („kondensieren“) und ein Gelee bilden. Diese Kondensation wird durch schwache Kohäsionskräfte getrieben, die denen ähneln denen, die sonst Enzyme in ihre Funktionsform falten, nur dass sie hier zwischen völlig ungeordneten Proteinabschnitten wirken. Das dabei entstehende Gelee wird auch als FG-Phase bezeichnet. Es wirkt als „intelligente“ Barriere, die es den winzigen Kernporenkomplexen in der Hülle des Zellkerns ermöglicht, Makromoleküle zu sortieren.
Während die FG-Phase ein gutes „Lösungsmittel“ und Transportmedium für molekulare Transporter samt Fracht ist, stößt sie gleichzeitig unerwünschte Makromoleküle ab. Wo das Transporter-Protein gerade eine FG-Domäne berührt, lösen sich die kohäsiven Verbindungen zwischen FG-Domänen; der Transporter kann samt Fracht durch das Gelee gleiten. Ihre intrinsische Unordnung erlaubt es den FG-Domänen, sich an die jeweilige Form und Größe eines mit Fracht beladenen Transporters anzupassen und diesen als adaptive Barriere zu umfließen. Die Beobachtungen von Görlichs Team zeigen, wie molekulare Transporter, die FG-Phase und weitere Komponenten gemeinsam eine hoch-effiziente „Pumpe“ für Makromoleküle bilden.
Neues Forschungsfeld eröffnet
Die FG-Phase war ein erstes Beispiel eines sogenannten biomolekularen Kondensats, von denen heute viele bekannt sind. An anderen Orten in der Zelle koordinieren solche Kondensate biochemische Reaktionen oder helfen, zellulären Stress zu bewältigen. Wie oft in der Forschung, wurde Görlichs Entdeckung anfangs mit Skepsis aufgenommen. Vielen galt die FG-Phase als ein Beispiel für exotische Materie, eine Ausnahmeerscheinung in lebenden Zellen.
„Heute wissen wir, dass Dirk Görlich damit ein ganz allgemeines Organisationsprinzip in lebenden Zellen aufgedeckt hat“, sagt die Geschäftsführende Direktorin des MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, Melina Schuh. „Zelluläre Kondensate in der Zelle bilden neue, hoch dynamische Kompartimente, die wichtige Funktionen übernehmen. Mit der Entdeckung der FG-Phase hat Dirk Görlich Licht in das dunkle Proteom gebracht und ein völlig neues Forschungsfeld eröffnet. Wir freuen uns daher, dass die wegweisenden Forschungsarbeiten von ihm und seinem Team mit dem Lasker-Preis geehrt werden und gratulieren ihm herzlich zu dieser renommierten Auszeichnung.“
HIV: Erbgut-Schmuggel in den Zellkern
Der „smarte Knotenpunkt“ Kernporenkomplex zwischen Zytoplasma und Zellkern ist für Organismen von der Hefe bis zum Menschen von fundamentaler Bedeutung. Er kann aber auch von Krankheitserregern missbraucht werden. Neueste Forschungsergebnisse des Preisträgers deckten einen eine besonders ausgeklügelte Strategie auf. Görlich’s Team entdeckte in Zusammenarbeit mit Kollegen vom MIT auf, dass das AIDS-Virus HIV sein Genom in den Zellkern der Wirtszelle schmuggeln kann, weil es sein Kapsid zu einem molekularen Transporter umfunktioniert hat. Das Kapsid schließt nicht nur das virale Genom ein, sondern kann eine zentrale Verteidigungslinie des Zellkerns, die FG-Phase, direkt durchqueren, die sonst vor eindringenden Viren schützt. Für die anti-viralen Sensoren im Zytoplasma bleibt das HIV-Genom bei diesem Schmuggel quasi unsichtbar. Diese Erkenntnis könnte in Zukunft für bessere AIDS-Therapien genutzt werden.
Über den Preisträger
Dirk Görlich studierte Biochemie in Halle und fertigte seine Promotionsarbeit am Max Delbrück Center für Molekulare Medizin in Berlin an. Nach einem zweijährigen Forschungsaufenthalt am Wellcome / CRC Institute (heute: Gurdon Institute) in Cambridge (Vereinigtes Königreich) wurde er 1996 als Forschungsgruppenleiter und 2001 als Professor für Molekularbiologie an das Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg berufen. Seit 2007 leitet er die Abteilung Zelluläre Logistik am MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften. Dirk Görlich erhielt zahlreiche wissenschaftliche Auszeichnungen, darunter den Heinz-Maier-Leibnitz-Preis, die EMBO Gold Medal, den Alfried-Krupp-Förderpreis, den WLA Prize 2022, den Louis-Jeantet Prize 2024 sowie den Tierschutzforschungspreis des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Er ist Mitglied der European Molecular Biology Organization (EMBO) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Über die Lasker Foundation und den Albert Lasker Prize
1942 gründeten Albert und Mary Woodard Lasker die in New York ansässige Lasker Foundation, um die finanzielle Unterstützung der medizinischen Forschung zu fördern. Mit den Lasker Awards werden die Beiträge von Persönlichkeiten gewürdigt, die bedeutende Fortschritte beim Verständnis, der Diagnose, Behandlung, Heilung und Prävention menschlicher Krankheiten erzielt haben. Jeder Preis ist mit 250.000 US-Dollar dotiert.
Der Preis gilt als die höchste Auszeichnung für biomedizinische Forschung in den USA. Im Laufe der Jahre haben 101 Lasker-Preisträgerinnen und Preisträger auch den Nobelpreis erhalten, darunter drei Max-Planck-Forschende: Georges Köhler, Christiane Nüsslein-Vollhard und Ernst Ruska.
Prof. Dr. Dirk Görlich
Abteilung für Zelluläre Logistik
Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, Göttingen
Telefon: +49 551 201-2400
E-Mail: goerlich@mpinat.mpg.de
https://www.mpinat.mpg.de/5110784/pr_2517 – Original-Pressemitteilung
https://laskerfoundation.org/ – Webseite der Lasker Foundation
https://www.mpinat.mpg.de/de/goerlich – Abteilung für Zelluläre Logistik
https://Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, Göttingen
Prof. Dr. Dirk Görlich
Quelle: Irene Böttcher-Gajewski
Copyright: Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Wettbewerbe / Auszeichnungen
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).